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MieterEcho 440 / Mai 2024

Zwischen Arbeiterpalästen und Eigentumswohnung

Die Karl-Marx-Allee als Mahnmal der Zerschlagung der sozialistischen Gesellschaft

Von Karin Baumert

Kommt man vom Osten nach Berlin, dann kündigt sich in Friedrichshain die Großstadt an. Mit Blick auf den Fernsehturm geht es die letzten Kilometer majestätisch eine hauptstädtische Allee entlang. Großzügig gebaut, mit Weite und Pracht. Wer kann sich noch daran erinnern, dass diese Allee von den Erbauern für die Arbeiter/innen und die Trümmerfrauen und für alle Werktätigen beim Aufbau des Sozialismus gedacht war? Denn es gab eine Zeit, in der an der Lösung der Wohnungsfrage gearbeitet wurde.

Heute sucht der Blick vergebens nach großstädtischem Flair. Betongold links und rechts der Allee säumt die Magistrale. Fahrräder fluten die Fußgängerwege. Langweilige Läden, so weit das Auge reicht. Kinder sucht man vergebens. Aber die Anfahrt auf das Zentrum ist geblieben. Der wunderbare Blick in die untergehende Abendsonne und ein Bauwerk für die Ewigkeit. Aldo Rossi, ein namhafter italienischer Architekt, bezeichnete sie seinerzeit als letzte geschlossene Straße, die in der Neuzeit gebaut wurde. Eine Geste der Herrschenden, die es aus eigener Erfahrung besser machen wollten und dem schaffenden Arbeiter eine Allee schenkten. Das lief nicht ohne Widersprüche ab.

Darum ist es wert, sich die Geschichte der einstigen Stalinallee genauer anzusehen.

Der Zweite Weltkrieg war beendet. Die USA, Frankreich, Großbritannien und die Sowjetunion befreiten Deutschland vom Faschismus. Die Rote Armee kam vom Osten in die Stadt. 

Was machen mit dem Krebsgeschwür Faschismus? Zunächst glaubte man an Deutschland einig Vaterland. Mit Hans Scharoun wurde ein bedeutender Architekt mit der Generalplanung zum Wiederaufbau der Stadt beauftragt. Schnell zeigte sich aber, dass die Alliierten unterschiedliche Gesellschaftsentwürfe aus ihren Ländern mitbrachten. 

Geschichtsschreibung als Klassenfrage 

Und hier teilt sich die Geschichtsschreibung. Fragt man die Besitzer der Eigentumswohnungen in der heutigen Karl-Marx-Allee, dann war alles, was in Ostberlin passierte, eine Vorstufe bis zur Wiedervereinigung 1989, als endlich auch im Ostteil der Stadt die Demokratie eingeführt werden konnte. Fragt man die Bewohner aus der ehemaligen DDR, dann wird unisono die Lebendigkeit der Straße und der Alltag im Sozialismus gewürdigt. Geschichte wird gemacht, auch in der Wahl der Perspektive.

Die damalige Stalinallee war die städtebauliche Antwort der Erbauer des Sozialismus auf Krieg und Faschismus. Also von Menschen, die nicht nur für ihre Ideen im Gefängnis saßen, sondern auch von der Sowjetunion lernten. Sie planten und bauten für die Werktätigen eine Allee mit großzügigen und modern ausgestatteten Wohnungen. Aber nicht nur aus der Not heraus wurde geplant, sondern auch aus der Idee, den Massen die Stadt zu schenken. 

Wer in den 70er Jahren als junge Frau seine Kinder nach der Arbeit aus dem Kindergartenkomplex hinter dem Weidenweg abholte und am Rosengarten an der Karl-Marx-Allee verweilte – die Kinder spielten und die alte Nachbarin erzählte – hätte sich niemals gedacht, dass ihre großen Probleme im Alltag und im Sozialismus einmal klein sein würden. Sie wusste es zwar zu schätzen, dass die alte Nachbarin von ihrer Zeit als Trümmerfrau erzählte und ihre Wohnung großzügig, modern und preiswert war, ihr Beruf anerkannt und die Zukunft der Kinder gesichert. Aber gern hätte sie auch ihre Kreativität in die Gesellschaft eingebracht. Das ging ihr alles zu langsam angesichts einer sich zuspitzenden Weltlage. 

Im Westen frönte man der Unendlichkeit der Marktwirtschaft, in der die Klassen schnell wieder zueinander fanden. Ärzte, Regierungsbeamte, natürlich auch Unternehmer wurden standesgemäß bezahlt. Wer die schmutzigen und einfachen Arbeiten machte, bekam eine Sozialwohnung. Die 68er-Generation lieferte das kulturelle Gleitmittel für die Ausbeutung. In Ostberlin kamen die Frauen aufs Tapet. Sie konnten ihre Kinder gesellschaftlich organisiert unterbringen und in der eigenen Berufstätigkeit mit männlichen Kollegen zusammen arbeiten, deren Frauen auch berufstätig waren. Es reichten wenige Jahrzehnte, um dieses soziale Kapital in den Familien zu verankern. Heute regt sich Widerstand zur Geschichtsschreibung der Ausbeuter. 

Die Voraussetzung für den Aufbau der heutigen Karl-Marx-Allee war die Lösung der Eigentumsfrage im Sozialismus. Ein Projekt wie diese Allee wäre aufgrund der Aufteilung von Eigentum und der heutigen Bodenpreise unmöglich. Es ist nicht möglich, den Drachen zu bändigen, ohne ihm den Kopf abzuschlagen. Ein kollektiver Planungsprozess unter Leitung von Herrmann Henselmann knüpfte damals an das Bauhaus der 1920er Jahre an. Gleichzeitig fühlte man sich auch der sozialistischen Tradition verpflichtet. Man plante und baute die heutige Karl-Marx-Allee im vollen Bewusstsein der eigenen geschichtlichen Rolle: Friede den Hütten, Krieg den Palästen! Arbeiterpaläste sollten entstehen. 

Natürlich kann man diese Geschichte auch anders erzählen. Die Arbeiter brachen unter der Normerhöhung zusammen und demonstrierten. Der 17. Juni, ein Beweis für die Unmenschlichkeit des Systems! Es war Kalter Krieg in einer Zeit, in der das Träumen im Osten in Stein gehauen wurde. Heute bleibt uns nur die Erzählung darüber. Und die gilt es einzuordnen. 

Da sind z. B. nach der Restauration des Kapitalismus die Arbeiter, die die Mall of Berlin am Leipziger Platz mit aufbauten. Über Monate bekamen sie keinen Lohn. Den erstritten sie dann vor Gericht. Aber ihr Chef hatte sich über eine Insolvenz aus seiner Verantwortung geschlichen. Der Besitzer konnte nicht belangt werden. Obwohl die Öffentlichkeit – organisiert von der unabhängigen Gewerkschaft FAU – an dem Prozess regen Anteil nahm, ist diese Art der Kostenminimierung bis heute Praxis geblieben. Darum ist es so wichtig, Geschichtsschreibung in ihrem historischen Kontext zu erzählen. Denn heute ist die Wohnungsfrage brisanter denn je! 

Nach 1989 wurden auch auf der Karl-Marx-Allee der Wert der Häuser neu taxiert und die Schulden der Wohnungsbaugesellschaften ermittelt. Diese Berechnung schaffte Verbindlichkeiten und erzeugte den Druck zur Privatisierung. Das Eigentum des Volkes wurde zerteilt in Eigentumswohnungen. Auch Trümmerfrauen mussten nun ausziehen. Viele zogen zu ihren Kindern nach Marzahn und Hohenschönhausen. Die großen Wohnungen boten sich an, als Wohngemeinschaften vermietet zu werden. Gemeinschaftliches Wohnen in Zeiten zunehmender Preise und damit auch Wohnungsnot.

Eigentum als soziales Verhältnis

Es bleibt die Gretchenfrage: Wollen wir das gemeinsam angehen oder löst das jede/r für sich und lässt den Rest der Menschheit außer acht? Die Klimafrage lässt das nicht zu. So setzen sich die Klimabesorgten auf der Straße und glauben, sie müssten da nur lange genug sitzen, dann würden die Herrschenden ihnen nachgeben und das Klima retten. Die Mühen der Ebene blieben aber auch bei ihnen kleben. Vielleicht hat Papi ihnen aber eine Eigentumswohnung gekauft, und sie könnten hochgehen und im Trockenen träumen. 

Heute kann sich der Verein „Stalinbauten e.V.” nicht satt sehen an den architektonischen Details – geschenkt. In der Eigentumswohnung lässt sich gut forschen. Besser noch, wenn man weitere Eigentumswohnungen besitzt, die einem den Lebensunterhalt einbringen. Aber solange die Wohnung eine Ware ist, wird das Menschenrecht auf Wohnen nicht durchsetzbar sein. Die Ungerechtigkeit der Eigenbedarfsklage politisiert sich bereits. Viele Betroffene werden zu Aktivist/innen und recherchieren zu ihren Eigentümern. Denn es ist immer dasselbe Problem, die Gesellschaft stellt sich durch die Eigentumsfrage gegeneinander auf und kämpft unerbittlich für das Eigentum. Eigentum ist in diesem Zusammenhang mehr als Besitz. Es ist ein soziales Verhältnis.

Einen Lichtstrahl ließ die Vergangenheit noch einmal aufblitzen. Als ganze Blöcke verkauft werden sollten, organisierten sich die Mieter/innen in großem Stil. Sie brachten nicht nur Power, sondern auch Vorschläge mit. Die Stadt sicherte das Vorkaufsrecht für alle in einem solidarischen Umlageverfahren. Niemand wurde allein gelassen. Lang anhaltende Strukturen der Solidarität machten es möglich. Aber auch diese Proteste können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zukunft der Karl-Marx-Allee nicht im Hier und Jetzt liegt. Das Flanieren findet im virtuellen Raum statt. Die Zukunftsfragen der Stadt entscheiden sich im politischen Raum. Was bleibt, ist die Idee einer anderen Gesellschaft, wenn wir sie denn erzählen wollen. 

 

Karin Baumert ist Stadtsoziologin und politische Aktivistin.


MieterEcho 440 / Mai 2024