Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 442 / Juni 2024

Wenn die Verhältnisse krank machen

Das Gesundheitskollektiv geht mit dem Stadteil-Gesundheits-Zentrum Neukölln neue Wege der Beratung und Versorgung

Von Franziska Paul und Patricia Hänel

Sag mir, wo du wohnst und ich sag dir, wie gesund du bist. Die Berliner Sozial- und Gesundheitsberichterstattung zeigt: In Bezug auf Gesundheit und Lebenserwartung gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Berliner Bezirken. Während z. B. die mittlere Lebenserwartung von Menschen in Charlottenburg-Wilmersdorf oder Steglitz-Zehlendorf 2017-2019 bei 82,4 Jahren lag, betrug sie in Neukölln nur 79,8 Jahre.

Darin spiegelt sich die Tatsache, dass Gesundheit maßgeblich von den gesellschaftlichen Verhältnissen abhängt, in denen Menschen leben. Anstrengende und prekäre Arbeitsbedingungen, Angst, die Wohnung zu verlieren oder die Miete nicht zahlen zu können, Rassismus oder Stress mit dem Jobcenter können krank machen. Gleichzeitig werden viele Menschen, die sozial und gesundheitlich benachteiligt sind, von vielen Angeboten der Gesundheitsversorgung nicht erreicht oder sogar ausgeschlossen.

Hier will das Gesundheitskollektiv Berlin ansetzen. Wir wollen die Lebensbedingungen, die Menschen krank machen, in die Versorgung einbeziehen. Wir wollen eine neue Form der Versorgung etablieren, für die und mit den Menschen im Stadtteil. Wir wollen interprofessionell, mit verschiedensten Berufen, daran arbeiten, Gesundheit für die einzelnen und im Stadtteil herzustellen. Wir wollen dabei kollektiv, hierarchiearm und auf Augenhöhe arbeiten. Wir wollen einen niedrigschwelligen Zugang zu Gesundheitsversorgung, Beratung und Informationen für alle ermöglichen. 

Dafür arbeiten wir seit 10 Jahren. Im Januar 2022 konnten wir das Geko Stadtteil-Gesundheits-Zentrum in Nord-Neukölln eröffnen. Hier arbeiten Medizinische Fachangestellte, Sozialarbeiter/innen, Krankenpfleger/innen, Psycholog/innen, Therapeut/innen, Ärzt/innen, Gesundheitsberater/innen, Sporttrainer/innen, Stadtteilmütter, Künstler/innen, Apotheker/innen u. a. m. haupt- und ehrenamtlich in der Versorgung, Beratung und Gesundheitsförderung. 

Niedrigschwellig und hierarchiearm

Das Besondere ist dabei, dass es die verschiedenen Angebote und Berufsgruppen nicht einfach nur „unter einem Dach“ gibt, sondern dass sie zusammenarbeiten und ineinandergreifen. Wird z. B. bei der Hausärztin festgestellt, dass eine Person chronische Magenschmerzen hat, wird dabei auch der Stress mit dem Vermieter ernst genommen und ein Termin mit der Sozialberatung vereinbart. Eine Familie, die in der Kinderpraxis mit einer neuen Diagnose ihres Kindes konfrontiert und überfordert ist, wird nach nebenan an die Gesundheits- und Pflegeberatung weitervermittelt, wo mit viel Zeit auf die neue Situation eingegangen wird und anstehende Krankenkassenanträge etc. bearbeitet werden können. Bei Bedarf tauschen sich die verschiedenen Beteiligten direkt untereinander aus und in Fallbesprechungen wird gemeinsam das weitere Vorgehen für die Behandlung und Beratung besprochen. 

Ergänzt wird das medizinische Versorgungs- und sozialpsychologische Beratungsangebot durch die „Café-Praxis“ und die Stadtteilarbeit. Die Café-Praxis ist ein Ort zum Ankommen und zur ersten Orientierung. Hier kann einfach verweilt und ein Kaffee getrunken werden, man kann sich über die Angebote des Zentrums informieren und sich mit seinen Anliegen an die Café-Mitarbeitenden wenden, wenn man unsicher ist, wohin man soll. In der Café-Praxis geht es auch um unkomplizierten Austausch und Begegnung, ob in einer der (von Patient/innen initiierten) kreativen Gruppen, beim Sprachcafé oder in verschiedenen Selbsthilfegruppen. 

Wie die Café-Praxis soll auch die Stadtteilarbeit einen niedrigschwelligen Zugang zum Zentrum, zu Angeboten und Informationen ermöglichen. Wir gehen an die Orte, wo Menschen leben, spielen und arbeiten, um dort Beratung und Gesundheitsförderung anzubieten. Aber auch um Vertrauen aufzubauen und zu erfahren, was die Menschen im Kiez beschäftigt. Unsere Vision ist es, durch die Stadtteilarbeit und die Café-Praxis zu einer Plattform für die Vernetzung und Selbstorganisierung der Menschen im Stadtteil zu werden. 

Doch wir wollen nicht nur in Neukölln ein Beispiel dafür sein, dass eine andere Gesundheitsversorgung möglich ist. Wir sind vernetzt mit vielen weiteren Initiativen, die solidarische Gesundheitszentren gründen wollen. Nach dem Vorbild des Mietshäusersyndikats haben wir das „Poliklinik Syndikat“ gegründet, das seit Mai 2023 ein Dachverband ist. Neben Hamburg, Leipzig, Berlin, wo es bereits Stadtteilgesundheitszentren gibt, sind außerdem Gründungsinitiativen aus Dresden, Jena, Freiburg, Göttingen und Köln im Syndikat vertreten. Weitere sieben Gruppen sind als Anwärter dabei, auch eine zweite Gruppe in Berlin. Das Poliklinik Syndikat ermöglicht den Austausch und die Vernetzung unter den verschiedenen Ortsgruppen, unterstützt neue Projekte im Aufbau und agiert als politischer Akteur auf der Bundesebene.

Denn mittel- bis langfristig brauchen wir eine andere Finanzierung und neue Gesetze für die Art der Versorgung, die wir anbieten. Die Abrechnungslogik der Krankenkassen zwingt die Praxen zu einer Arbeit unter ökonomischen Gesichtspunkten. Zeit für komplexe Fälle, Zeit für gemeinsame Entscheidungsfindung mit den Patient/innen, Zeit für interprofessionellen Austausch und Fallbesprechungen sowie für kollektive Selbstverwaltung, Maßnahmen zur Reduktion von Barrieren (z. B. durch Sprachmittlung), oder auch Spielraum für solidarische Löhne, die die Kluft zwischen Ärzt/innen und nichtärztlichen Berufsgruppen angleichen, sind in der aktuellen Finanzierungslogik schlicht nicht vorgesehen. Gleichzeitig muss der gemeinnützige Verein, der die Beratungsangebote, die Café-Praxis und die Stadtteilarbeit trägt, immer wieder neu befristete Fördermittel beantragen und sich einer Logik unterwerfen, die zu einem Projekt- und Innovationszwang führt, statt einer nachhaltigen, bedarfsorientierten Arbeit nachzugehen. 

Andere Gesundheitspolitik ist nötig

Unser Ziel ist, dass Stadtteilgesundheitszentren irgendwann fester Bestandteil der Gesundheitsversorgung sind. Einen wichtigen Schritt in diese Richtung ist das Land Berlin letztes Jahr mit dem Förderprogramm „Landesförderung Integrierte Gesundheitszentren“ (LIG) gegangen. Durch dieses Förderprogramm, das auch das Geko mitfinanziert, konnten in drei weiteren Stadtteilen (Spandau, Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg) weitere Gesundheitszentren angestoßen werden. Allerdings ist angesichts der Haushaltslage Berlins sehr unsicher, ob das Programm so bestehen bleibt wie geplant.

Um langfristig nicht nur Regeln für einzelne Bundesländer zu haben, haben wir zusammen mit unserem Schwesterprojekt Poliklinik Veddel in Hamburg einen Antrag beim Innovationsfonds gestellt. Durch dieses Programm der Krankenkassen sollen neue Versorgungsformen getestet werden, um sie – wenn sie gut funktionieren – als festen Bestandteil in die gesetzliche Krankenversicherung aufzunehmen.

Auch im Rahmen des aktuell im Bundesministerium für Gesundheit diskutierten „Gesundheits-Versorgungs-Stärkungs-Gesetz“ (GVSG) wurden Stadtteilgesundheitszentren als sogenannte „Primärversorgungszentren“ angedacht (wenn auch aus unserer Perspektive noch unzureichend). Leider sind diese Primärversorgungszentren im aktuellen Gesetzentwurf wieder rausgeflogen. Wir versuchen daher derzeit intensiv, Politiker/innen davon zu überzeugen, sich für die Wiederaufnahme in das Gesetz starkzumachen. 

Für uns ist dabei zentral: Gesundheit darf nicht Profitinteressen folgen, sondern ist ein Menschenrecht! Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) betonte schon 1978, dass dafür Anstrengungen nicht nur der Gesundheitspolitik, sondern auch in vielen anderen sozialen und ökonomischen Bereichen erforderlich sind („Health in All Policies“). Das heißt für uns: Gesundheitliche Chancengleichheit kann nur dann geschaffen werden, wenn wir nicht nur beim Gesundheitssystem ansetzen, sondern Gesundheit als gesellschaftspolitische und soziale Frage betrachten. Denn Krankheiten sind eben ohne eine andere Politik nicht heilbar.

Neben der grundlegenden Demokratisierung und Vergesellschaftung der Gesundheitsversorgung und weiterer sozialer Infrastruktur streben wir daher eine grundlegende gesamtgesellschaftliche Transformation hin zu guten Lebensbedingungen für alle an! Denn, wie Michael Marmot (Professor für Epidemiologie und Public Health) treffend sagte: „Warum sollen wir Menschen behandeln, um sie dann in die Verhältnisse zurückzuschicken, die sie krank gemacht haben?“ 

 

Patricia Hänel ist im Gesundheitskollektiv für Koordination, Öffentlichkeitsarbeit und Gesundheitspolitik zuständig. Franziska Paul arbeitet dort im Bereich Forschung und Evaluation. Weitere Infos: geko-berlin.de


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