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MieterEcho 443 / August 2024

Klassenkampf in der Stadtplanung

Der CDU/SPD-Senat steht für private Verwertungsstrategien und Abbau von Beteiligungsrechten

Von Katalin Gennburg

Vor genau zehn Jahren startete die Stadtdebatte „Alte Mitte, neue Liebe“ über die Berliner Ost-Mitte. Die damals amtierende Senatsbaudirektorin Regula Lüscher eröffnete einen Beteiligungsprozess zur Erarbeitung von Leitlinien für die zukünftige Entwicklung jenes Teils der Hauptstadt, der seit 1990 Austragungsort ideologischer Grabenkämpfe im sogenannten Architekturstreit war und bis heute ist.   

Schaut man sich die Debatte um die Berliner Mitte heute an, müssen wir leider feststellen, dass die breite Beteiligung und die Ergebnisse dieser Stadtdebatte durch die neue SPD/CDU- Regierung ad absurdum geführt werden. Seit der Ernennung von Petra Kahlfeldt als Senatsbaudirektorin werden die vormaligen Standards für Transparenz und Partizipation komplett geschrottet.

Es sollte keine Kleinigkeit sein, wenn im Jahr 2024 durch eine Regierung in der Hauptstadt der BRD die Errungenschaften der Moderne zur Einbeziehung der Menschen in die Gestaltung ihrer Lebenswelt „gecancelt“ werden. Bürger/innenbeteiligung ist kein „nice to have“, sondern der Unterschied zu absolutistischer Stadtbaukunst und feudaler Raumgestaltung nach Gusto des Bürgertums, des Kaisers und der Eliten. 

Der Ausverkauf der Stadt hat eine lange Geschichte und viele Gesichter, und diese haben sich seit dem Mauerfall verändert. Die Verwertungsstrategien des Berliner Stadtraums – insbesondere in der Innenstadt und entlang des früheren Mauerstreifens – haben unter dem Deckmantel der Wohnungsnot im vergangenen Jahrzehnt nicht nur Townhouses, Eigentumswohnungen und Mikroapartments hervorgebracht, sondern auch Gewerbe- und Produktionsräume, mithin Wertschöpfungspotenziale und Kreativorte, stadtweit vernichtet. Seit rund fünf Jahren kommen verstärkt auch Grünflächen der Hauptstadt unter den Hammer und werden verwertbar und „baureif“ gemacht. 

Bezahlbarer Wohnraum wird vernichtet

Die sogenannte „Nachverdichtung“ trifft insbesondere die Großsiedlungen der Ost-Moderne am Stadtrand. Unzählige Initiativen organisieren sich und diese Nachbarschaftsinitiativen eint, dass sie für eine lebenswerte Stadt eintreten und für eine gute Versorgung der Menschen. Aber in Planungsverfahren dürfen sie nicht mitreden. Wer immer Ideen, Vorschläge und Einwände vorbringt, wird als Nörgler und Besitzstandswahrer abgestempelt. So werden die demokratischen Errungenschaften zunichtegemacht und Basisarbeit in den Stadtteilen delegitimiert. 

Während Menschen in den Großsiedlungen am Stadtrand noch gegen diese Klassenpolitik von oben kämpfen, fragt man sich, wer kämpft eigentlich noch um die Berliner Mitte als Wohnort der Arbeiter/innenklasse der ehemaligen DDR? Diese Frage kann der Beginn einer Aufarbeitung dessen sein, was die Berliner/innen in den vergangenen Jahren an Eigentumsverschiebungen und quasi Enteignungen erleben mussten, und was als kollektive Erfahrung Teil einer zu führenden Stadtdebatte sein muss.​

Als 2015 der damalige Bausenator Geisel (SPD) verkündete, „Es gibt kein Recht auf Innenstadt“ und man brauche eine „Neue Gründerzeit“ für Berlin, war das auf erschreckende Weise ohne großen Widerspruch möglich. Immer wieder fabulieren auch Sozialdemokrat/innen über die Idee einer „Neuen Bürgerstadt“ und fordern die „strategische Aufwertung“ zur Lösung sozialer Konflikte. Seit einigen Jahren erleben wir zeitgleich zur Debatte über die soziale Zusammensetzung der Berliner Großsiedlungen eine von Politikeliten geführte Debatte über „notwendige“ Mieterhöhungen bei den Landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften (LWU), während Nachverdichtungspläne die Berliner Stadtplanung vollständig zu ersetzen scheinen. 

Nach drei Jahrzehnten Verdrängungspolitik aus der Innenstadt und der Normalität von explodierenden Mieten möchte man wiederum laut fragen: „Aber wo sollen sie denn wohnen“, wenn nicht in kommunalen Wohnungen, und welche Gesellschaftsvorstellungen liegen dieser Bewertung eigentlich zugrunde? Dazu gehört auch, dass bezahlbarer Wohnraum insbesondere in „guten Lagen“ aktiv vernichtet wird, denken wir nur an die Kämpfe gegen den Abriss in der Habersaathstraße in Mitte. Der Abriss von leistbaren Wohnungen und der Neubau teurer Eigentumswohnungen resultiert nicht immer aus der Unfähigkeit der politisch Verantwortlichen. Nein, es ist sogar erklärtes Programm im Dienste einer klaren Klassenpolitik, wonach die Innenstadt den Wohlhabenden vorbehalten sein soll und der Stadtrand für all jene „zuständig“ ist, die es in dieser brutalen Logik nicht „geschafft“ haben.  

Der Stadtsoziologe und Mietenaktivist Andrej Holm hat in seinem Buch „Das Objekt der Rendite“ anschaulich nachgewiesen, wie diese Klassenpolitik schon vor 1990 in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung zur ideologischen Grundausbildung des Spitzenpersonals gehörte. Nachweisen lässt sich eben auch, dass Amtsleitungen die „gezielte Aufwertung“ von Nachbarschaften in den Siedlungen der Nachkriegsmoderne betreiben, also eine Bevölkerungspolitik, die eine „gute soziale Mischung“ befördern soll. 

Während viele Menschen ihr Zuhause durch Eigenbedarfskündigungen und durch auslaufende Sozialbindungen oder Mieterhöhungen bei den LWU verlieren, spitzt sich die Wohnraumversorgungssituation zusätzlich durch die gezielte Aufwertung von Quartieren zu. Gute, günstige Wohnungen in der Mitte der Stadt werden nicht etwa als Vorteil betrachtet, sondern sollen verschwinden, zugunsten einer „Neue Bürger braucht die Stadt“-Idee der SPD. 

Nachweislich haben die Aufwertungsfans konkrete Lösungswege für dauerhaft leistbare Wohnungen abgelehnt; so beispielsweise die Möglichkeit, auf landeseigenen Grundstücken wie dem Molkenmarkt inmitten der Innenstadt und hinter dem Roten Rathaus Sozialwohnungen in Landeshand zu erbauen, die für immer sozial gebunden sein könnten. Denn es war erklärtes Ziel, genau dieses Modell für mindestens zwei Landesgrundstücke unter der rot-rot-grünen Koalition in die Realität umzusetzen, und davon geblieben ist nichts.

Molkenmarkt als Symbol der „Neuen Mitte”

Deswegen muss gefragt werden, um welchen Preis diese soziale und kluge Lösung abgelehnt wird und welche Lösungen die neue SPD/CDU-Koalition stattdessen im Bereich des Wohnungsbaus verfolgt. Die Bilanz jedenfalls ist alarmierend: Mieten bei den LWU werden wieder erhöht, und stattdessen gibt es eine neue, millionenschwere Eigentumsförderung. Grundstücke sollen wieder (teil-)privatisiert werden. Ferner soll ein „Schneller-Bauen-Gesetz” für die Beinfreiheit von Investoren erlassen werden – gegen Umweltschutz und Bürgerbeteiligung.

Was diese Politik für Mieter/innen bedeutet, ist hinlänglich bekannt. So haben die Neubauten aus dem „Planwerk Innenstadt” kein günstiges Wohnen ermöglicht und stattdessen die Mieten in Mitte entsprechend den Lagekriterien im Berliner Mietspiegel für alle gleichermaßen nach oben getrieben. Für Eigentümer/innen stiegen die Grundstückswerte, und die vor zwanzig Jahren erbauten Townhouses haben die damaligen Käufer/innen zu Millionären gemacht, wenn diese nach gerade einmal zehn Jahren Veräußerungsverbot weiter verkauften – was laut der Stadtforscherin Roberta Burghardt genau so passiert ist. 

Beängstigend still und ohne Aufstand dominiert die strategische Aufwertungsdebatte der Innenstadt noch immer den Diskurs, als ginge es um hässliche oder schöne Architektur. Doch es geht um immobilienwirtschaftliche und mietenpolitische Interessen, und da müssen sich Amtsträger/innen für eine Seite entscheiden. Denn kapitalistischer Städtebau ist kein Normalzustand, und die sozialen Verwerfungen, die wir zu spüren bekommen, etwa durch massenhafte Wohnungslosigkeit und andauernde Mietenexplosionen, sind nicht alternativlos. Ob am Molkenmarkt 100% sozialer Wohnungsbau auf dem letzten großen innerstädtischen Landesgrundstück entsteht, ist daher eine hoch politische Frage. Und diese steht und fällt mit der Grundsatzfrage: Wem gehört die Mitte?

Wenn wir für ein Recht auf Stadt eintreten, dann braucht es dafür konkrete Geländegewinne für lebenswerte Räume, für die große Mehrheit der Menschen. Jede gebaute Luxuswohnung geht zulasten einer Sozialwohnung in einer Stadt mit begrenztem Raum. Wer allerdings behauptet, in der Innenstadt könne nicht jede/r wohnen und die Armen müssten den Reichen Platz machen, der betreibt Klassenkampf von oben. Genau deshalb ist der Kampf um die Berliner Mitte aktueller denn je und darf nicht aufgegeben werden. Die Mitte gehört den Menschen und nicht den Grundstückseigentümern – nur das kann der Ausgangspunkt für eine radikale Städtebaudebatte sein.

 

Katalin Gennburg ist stadtpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus. 2016 errang sie erstmals ein Direktmandat im Wahlkreis Treptow-Köpenick 1, das sie 2021 und 2023 verteidigte.


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