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MieterEcho 438 / Januar 2024

Housing First: zu bürokratisch und zu wenig Mittel

Zur Überwindung der Wohnungslosigkeit braucht es eine gemeinsame Kraftanstrengung von Kommunen, Ländern, Bund und EU

Von Nicolas Šustr

„Housing First ist gut, das ist völlig klar“ , sagt der nordrhein-westfälische Sozialminister Karl-Josef Laumann bei der Abschluss-Pressekonferenz der Arbeits- und Sozialministerkonferenz im Dezember 2023. „Aber man muss schon relativ viel Kapital in die Hand nehmen, um da letztendlich etwas hinzukriegen“ , nennt der CDU-Politiker auch den Pferdefuß, den das ursprünglich aus den USA stammende Konzept nicht nur aus seiner Sicht hat.    


Es geht darum, auch psychisch und/oder suchtkranken Obdachlosen eine eigene Wohnung zu verschaffen, ohne dass dies zwangsläufig an eine Entgiftung oder Therapie geknüpft ist. Die Wohnung ist Ausgangspunkt der Hilfe, die die Menschen dann selbst bestimmen. „Im politischen Raum sorgt das öfter für Verwirrung, weil es zusammengeworfen wird mit dem finnischen Ansatz. Die sind aus wohnungspolitischer Perspektive gestartet und haben Obdächer in eigene Wohnungen umgewandelt. Die Ansätze ähneln sich, haben aber auch wichtige Unterschiede“, sagt Julia von Lindern vom Bundesverband Housing First im Gespräch mit dem MieterEcho.

Die Scheu vor der Übernahme der Kosten dürfte auch erklären, warum deutschlandweit bisher nur rund 500 Wohnungen für Housing First-Projekte akquiriert worden sind, wie eine grobe Abfrage des Bundesverbands Housing First ergeben hat. „Schätzungen, mehr haben wir leider nicht, sehen einen Bedarf für zirka 50.000 Menschen in der Straßenobdachlosigkeit in Deutschland“, sagt von Lindern.

„Die Kommunen gehen bisher meistens über Modellprojekte mit einer Modellförderung heran. Durch die festen Etats, die politisch dafür zur Verfügung gestellt werden, erfolgt eine Deckelung“, so von Lindern. Die Verfügbarkeit von Wohnungen sei weniger ein Problem. „In Hamburg könnte Housing First mehr Wohnungen bekommen. Die Zielvorgabe des dortigen Senats von 30 zu versorgenden Personen verhindert das allerdings, da die Kosten für die Sozialarbeit begrenzt sind. Eine Ausweitung würde auf Kosten der Qualität gehen, auf der die hohe Wohnstabilität begründet ist“, erläutert die Expertin.

Kompetenzwirrwarr und gedeckelte Mittel

In Berlin sind inzwischen sechs Träger mit Housing First-Projekten beauftragt. Sie beklagen vor allem eine langsam arbeitende Bürokratie. „Diverse Behörden arbeiten hin und wieder mehr als schleppend. Es dauert oft lange, bis die Kostenübernahme vom Jobcenter für die jeweiligen Mietverträge kommt“, berichtete Sebastian Böwe von Housing First Berlin gegenüber der Deutschen Presse-Agentur. „In jüngster Vergangenheit musste ich zweimal eine Bürgermeisterin einschalten, um Wohnberechtigungsschein und Kostenübernahme der Miete zu bekommen. Für zwei Menschen, die sonst heute noch auf der Straße leben würden“, so Böwe. Senatssozialverwaltung und Jobcenter sprechen von „Einzelfällen“ und bezeichnen die Kritik als „zu pauschal“.

Die Mittel für Housing First sind auch in Berlin gedeckelt. 2023 standen dafür 3,3 Millionen Euro zur Verfügung, für 2024 sind laut Haushaltsentwurf knapp 4,4 Millionen Euro vorgesehen, 2025 soll die Summe um weitere 200.000 Euro steigen.

Bisher liegt in Berlin die Erfolgsquote mit Blick auf die zurückliegenden fünf Jahre, als Housing First als Pilotprojekt startete, bei über 90% Menschen, die weiterhin in den eigenen vier Wänden leben. 

Alle Evaluierungen haben bisher die hohe Erfolgsquote bestätigt. Für Berlin hatte die Alice-Salomon-Hochschule Ende 2021 eine Untersuchung vorgelegt, die auch hier eine erfolgreiche Umsetzung bescheinigt. Hervorgehoben wird, dass so dem in der Sozialarbeit leider allzu gut bekannten „Drehtüreffekt“ bei Langzeitwohnungslosen mit multiplen Problemlagen, die im traditionellen Hilfesystem bisher gescheitert sind, begegnet werden könne. 

Doch eine nicht gedeckelte Regelfinanzierung des Angebots ist derzeit nicht in Sicht. „Offensichtlich gibt es gerade eine Tendenz, die politische Zuständigkeit auf jeweils einer anderen Ebene zu suchen: Kommune, Land, Bund, Europäische Union“, sagt Julia von Lindern. Dass die Bundesregierung mit dem Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit sich des Problems annehmen möchte, habe man beim Bundesverband für ein „sehr positives Signal“ gehalten. Allerdings hätte der Plan bereits 2023 vorliegen sollen und ist nun für März 2024 angekündigt. „Wenn man etwas mit Aktionsplan überschreibt, aber dann keine Aktion erfolgt, dann haben wir ein großes Problem. Wir sehen keine strukturelle Aufstellung, wie das Ziel des Plans gelingen kann, sondern eher Allgemeinplätzchen“, so von Lindern weiter.

Auch die Sozialministerinnen und -minister der Länder setzen auf Europa. Bei ihrer Beratung hatten sie auch EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit zu Gast. Er habe „noch einmal deutlich gemacht hat, wie wichtig das auch für Europa ist, Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030 zu überwinden“, berichtet Berlins Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD). „Wir als Länder haben in der Konferenz deutlich gemacht, dass auch die Europäische Union hier gefragt ist, weil es eine europäische Herausforderung ist“, so Kiziltepe weiter. Der Wohnungslosenbericht zeige, dass überwiegend Menschen, die aus EU-Ländern kommen, betroffen seien.

Gegenüber dem MieterEcho wird Kiziltepe noch einmal deutlicher: Über die Hälfte der Obdachlosen, die auf den Straßen Berlins leben, hätten keinen Anspruch auf Sozialleistungen, könnten also vom Hilfesystem jenseits der Notübernachtungen nicht versorgt werden. Sie wünsche sich eine solidarische Finanzierung auf europäischer Ebene. „Natürlich muss auch die Finanzierung für EU- und Nicht-EU-Ausländer/innen geklärt werden. Sie werden derzeit strukturell ausgeschlossen“, unterstreicht Julia von Lindern vom Bundesverband.

Doch auch der Bund müsse seine Hausaufgaben machen. „Wir wünschen uns explizit, dass Housing First einen starken Fokus bekommt, eine Würdigung“, sagt von Lindern. Das Konzept müsse mit politischer und finanzieller Schlagkraft ausgestattet werden. „Der Bund könnte sich bei der Finanzierung mehr einbringen und für eine bundeseinheitliche Strukturierung sorgen. Über die Sozialhilfe-Paragrafen im Sozialgesetzbuch XII wäre eine bundesgesetzliche Finanzierung machbar, das war auch Konsens beim Fachtag zu Housing First Anfang Dezember“, erläutert sie.

Gestecktes Ziel so kaum zu erreichen

Angesichts der Haushaltsnöte auf Bundesebene dürfte die Aussicht auf einen größeren Beitrag des Bundes eher mau sein. Und in Berlin sind die finanziellen Perspektiven ebenfalls düster. Dem Vernehmen nach plant die EU in ihrem Etat auch nur einen niedrigen zweistelligen Millionenbetrag ein. Wie angesichts der Gemengelage das Ziel erreicht werden soll, in Europa bis 2030 die Obdach- und Wohnungslosigkeit zu beenden, ist äußerst fraglich. Dabei haben sich die EU, der Bund und das Land Berlin jeweils unabhängig voneinander darauf verpflichtet.

Bald zehn Jahre wird Housing First in Deutschland praktiziert. „Der Düsseldorfer Verein fiftyfifty, wo ich gearbeitet hatte, war einer der ersten, die sich intensiv mit der Umsetzung des Konzepts beschäftigt hatten“, berichtet von Lindern. Bei fiftyfifty sei es immer die Prämisse gewesen, das zu tun, was die Betroffenen möchten und sie nicht paternalistisch zu ihrem vermeintlichen Glück zu zwingen. „2014 sind wir das erste Mal nach Wien gefahren, weil es die nächstliegende Stadt war, in der Housing First angewandt worden ist. 2015 sind wir in Düsseldorf mit Housing First gestartet, inzwischen sind 60 Personen in Wohnungen untergebracht worden“, berichtet sie.

Dass Housing First dringend nötig ist, zeigen auch die Ergebnisse einer Untersuchung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. 651 wohnungslose Menschen aus vier Metropolregionen wurden dabei befragt und medizinisch untersucht. Neben deutlich höheren Raten an körperlichen Erkrankungen als in der Allgemeinbevölkerung „berichteten rund 23 Prozent der Studienteilnehmenden von einer ärztlich diagnostizierten psychischen Erkrankung. Bei rund 70 Prozent der wohnungslosen Menschen gab es zudem Hinweise auf das Vorliegen einer möglichen unbekannten psychischen Erkrankung“, erläuterte Studienleiter Fabian Heinrich vom Institut für Rechtsmedizin im Dezember 2022.

„Die Obdachlosigkeit kann in einem reichen Land wie Deutschland schnell überwunden werden“, ist Julia von Lindern überzeugt. Für die Überwindung der Wohnungslosigkeit bräuchte es eine andere Politik. „Wieso dürfen Mieten immer weiter steigen?“, will sie wissen.   


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