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MieterEcho 442 / Juni 2024

Gesundheitswesen im freien Fall

Die Regierung orientiert auf profitable und „kriegstüchtige“ stationäre Versorgung

Von Josephine Thyrêt   

Das Recht auf bezahlbares Wohnen wird genauso wie das Recht auf Gesundheitsversorgung für alle seit vielen 
Jahren angegriffen. In beiden Fällen  erleben wir, dass sozialstaatliche Errungenschaften abgebaut und zerstört werden. In der Wohnungswirtschaft sind gewinnorientierte Unternehmen auf dem Vormarsch. Konzerne wie Vonovia beherrschen einen „Markt“, der eigentlich keiner sein dürfte.
Wohnen darf nicht der Konkurrenz unterworfen werden.

Eine analoge Entwicklung gab es im Gesundheitswesen: Bereits 1985 wurde das Gewinnverbot für Betreiber von Krankenhäusern aufgehoben. Ein Tabubruch, der dringend rückgängig gemacht werden müsste. Das Ergebnis heute: 40% der Krankenhäuser befinden sich in der Hand von privaten Konzernen. Sogenannte „institutionelle Anleger“ wie z. B. Hedgefonds haben in Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) lukrative Renditeobjekte gefunden. 

Unter den Krankenhausbetreibern sind heute nur noch 28,5% öffentliche Kliniken, aber sie halten bei weitem die meisten Betten vor (47%), auch Intensivbetten (53%), und sie haben die höchsten Fallzahlen (48%). Das sind die Zahlen des Statistischen Bundesamtes für 2022. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erzählt uns, dass 50.000 Ärztinnen und Ärzte fehlen werden. Bei den Pflegekräften geht die Bertelsmann-Stiftung von 500.000 bis zum Jahr 2030 aus. Eine Entwicklung, die Lauterbach aber selbst mitzuverantworten hat. Krankenhäuser verschwinden zusehends. Ganze Regionen werden von der Versorgung abgehängt. Betriebsrats- und Gewerkschaftskolleg/innen aus Brandenburg sprechen mittlerweile von einem „Krankenhaus-Kannibalismus“, weil sich Krankenhäuser auf Kosten anderer zu retten versuchen. Die Not der Krankenhäuser ist durch die Politik dieser und vorheriger Regierungen hervorgerufen worden. So wie es auch für Wohnungsnot und Mietenwahnsinn zutrifft.

„Kriegstüchtige“ Krankenhäuser als Ziel

Dazu kommen die Kriege, die wir in Europa und im Nahen Osten erleben. Die sind nicht irgendwo weit weg – sie bedeuten in ihrer Konsequenz auch einen sozialen Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Infolge des Krieges in der Ukraine und seit einem halben Jahr auch in Palästina, werden im öffentlichen Haushalt Milliarden für Waffenlieferungen und Aufrüstung bereitgestellt – auf Kosten der dringend notwendigen Wiederherstellung des Bildungswesens, des Gesundheitswesens, der sozialen Infrastruktur und der Wohnraumversorgung.    

Aus dem Gaza-Streifen erreichen uns tagtäglich die unerträglichen Bilder von den Wohngebäuden, die dem Erdboden gleichgemacht wurden und von Krankenhäusern, die angegriffen wurden. Wir sehen die Bilder von Frauen und Kindern in Lagern, vertrieben aus ihren Häusern, hungernd, ohne ärztliche Versorgung. In der Ukraine geht währenddessen das Töten weiter.

Ganze Landstriche sind unbewohnbar, die Energieversorgung und die Infrastruktur werden auf beiden Seiten angegriffen.

Für die Finanzierung dieses Kriegswahnsinns wird die öffentliche Daseinsvorsorge noch mehr zurückgefahren. Die Mieter/innen bezahlen die Folgen der Sanktionen gegen Russland durch explodierende Energiekosten und steigende  Inflation. Das betrifft natürlich auch die Krankenhäuser und verschärft deren ohnehin prekäre ökonomische Lage, die der seit Jahren fehlenden Ausfinanzierung durch die öffentliche Hand geschuldet ist. 

Doch die Politik der Bundesregierung geht weit über Waffenlieferungen, die Erhöhung des Rüstungshaushaltes und korrespondierende Sozialkürzungen hinaus. Auch die Krankenhäuser sollen „kriegstüchtig“ werden. Im März erklärte  Minister Lauterbach, dass sich die Krankenhäuser in Deutschland für militärische Konflikte wappnen müssten. Deutschland werde im Bündnisfall „die Drehscheibe Europas in der Versorgung von Kriegsverletzten“ sein, wird Lauterbach zitiert. Die Bundeswehr rechnet mit bis zu 1.000 Verletzten pro Tag, die versorgt werden müssten (Handelsblatt vom 22. Februar 2024). Lauterbach arbeitet bereits an einem eigenen Gesetz, einem „Operationsplan Deutschland“.

Was heißt das? Geht die Bundesregierung davon aus, dass ein Krieg unter Beteiligung von Deutschland und der NATO unausweichlich ist? Wird die militärische Gesundheitsversorgung gegenüber der zivilen im Kriegsfall „priorisiert“, um die Verwundeten schnell wieder an die Front schicken zu können? Krankenhausschließungen und der damit verbundene Bettenabbau geschehen vor dem Hintergrund von existierenden und drohenden Kriegen. Sie gehen einher mit dem Angriff auf sämtliche Sozialsysteme – also einem forcierten sozialen Krieg in Deutschland und Europa. Was bedeutet es, wenn Deutschland und die NATO-Länder „kriegstüchtig“ zu Felde ziehen? Kanonen statt Butter? Bunker statt Wohnungen? Lazarette statt Kliniken?

Staatlich verordnete Unterversorgung

Doch auch jenseits der Kriegsrhetorik werden sich die Auswirkungen der aktuellen „Lauterbach-Reform“ zur Umstrukturierung der stationären Versorgung bald zeigen. Die Tendenz ist schon lange sichtbar. Seit 2020 sind bereits mehr als 60 Krankenhäuser geschlossen worden. Damit geht ein massiver Bettenabbau einher und immer mehr Menschen verfügen schon jetzt nicht mehr über die Gesundheitsversorgung, wie sie qualitativ und quantitativ gesetzlich vorgeschrieben ist.

Mit der „Reform“ geht man davon aus, dass mindestens weitere 400 Krankenhäuser ersatzlos geschlossen werden. Was bedeutet das für die Versorgung unserer Patient/innen? Sicher ist: Die teilweise jetzt schon desaströse stationäre Versorgung wird sich weiter verschlechtern. Die Notfallversorgung soll zukünftig nur noch in maximal 60% der Krankenhäuser stattfinden.

Es ist unvorstellbar, was das für die Flächenlandschaft Deutschland bedeuten wird. Lauterbach will eine „Ambulantisierung“ der Gesundheitsversorgung und verschweigt, dass das ambulante Versorgungssystem schon jetzt am Limit ist. Als Gründe für die Schließung von Kliniken wird deren „Unwirtschaftlichkeit“ genannt. Doch die Finanzierung der Gesundheitsversorgung obliegt dem Gesetzgeber und der Regierung. Die Finanzierung durch das Fallpauschalensystem hat sich als zerstörerisch erwiesen. Krankenhäuser sollen so ausgerichtet werden, dass mit Krankheit, respektive Gesundheit Profite generiert werden. Das wird sich mit der „Lauterbach-Reform“ noch massiv beschleunigen. Diese Zerstörung des Gesundheitswesens muss dringend gestoppt werden.

Klinik-Beschäftigte aus Berlin und Brandenburg haben sich zusammengetan und eine Unterschriftensammlung zur „Krankenhausreform“ initiiert. Innerhalb nur eines Monats haben über 45.000 Menschen diese Erklärung „Nein zu Lauterbachs ‚Krankenhausreform‘“ (siehe Infokasten) auf dem Petitionsportal change.org unterschrieben. Zusätzlich wurde sie noch von Hunderten, die auf Versammlungen und Kundgebungen unterzeichnet haben, unterstützt.

Immer wieder protestieren Abertausende gegen die Zerstörung ihrer sozialen Lebensgrundlagen – sei es für bezahlbares Wohnen, sei es für eine wohnortnahe und qualifizierte Gesundheitsversorgung. Der DGB hat vollkommen recht, wenn auch er Soforthilfen für die Krankenhäuser fordert. Das heißt, wir benötigen ein Sofortprogramm zur Wiederherstellung des öffentlichen Gesundheitswesens, im Interesse der gesamten Bevölkerung, im Interesse unserer Gesellschaft, im Interesse des Gemeinwesens.

 

Josephine Thyrêt ist ver.di-Mitglied und Betriebsrätin bei Vivantes.

 

Aus der Erklärung

„Nein zur Lauterbachs ‚Krankenhausreform‘!
Für ein Sofortprogramm zur Rettung der Kliniken“


»(…) Das öffentliche Gesundheitswesen befindet sich im „freien Fall“. (…)

Wir, Beschäftigte im Gesundheitswesen… erleben das tagtäglich an unserem Arbeitsplatz. Deshalb haben die Kolleginnen und Kollegen in den vergangenen Wochen und Monaten für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen, für Rückführung der ausgegliederten Betriebe und die Verteidigung des Lohnes gekämpft.

Damit haben wir zugleich die Existenz unserer Krankenhäuser verteidigt. (…)

Die Zerstörung des öffentlichen Gesundheitswesens ist ein massiver Angriff auf die soziale und demokratische Republik, der zentralen Grundlage der Gesellschaft, die in der gleichwertigen Gesundheitsversorgung für alle besteht.

Wir fordern:

Kein Bettenabbau! Keine Schließung! TVÖD für alle! Mehr Personal! Rückführung der Tochterbetriebe!

Das öffentliche Gesundheitswesen braucht ein Sofortprogramm zur Rettung und Wiederherstellung des öffentlichen Gesundheitswesens! (…)«

-> Petition auf change.org


MieterEcho 442 / Juni 2024