Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 442 / Juni 2024

Gesundheit ist eine Klassenfrage

 

Interview mit dem Arbeits- und Gesundheitswissenschaftler Wolfgang Hien

MieterEcho: Was waren die Grundlagen der Arbeitergesundheitsbewegung?

Wolfgang Hien: Lange Jahre waren die Verhältnisse in den Betrieben recht versteinert. Betriebsratsfürsten kungelten mit den Kapitalherren, die Arbeitsbedingungen waren teilweise noch vorsintflutlich, wer von Gesundheitsschutz sprach, der wurde verlacht oder verhöhnt. Ganz entscheidende Impulse kamen von der Umweltbewegung: Schwermetalle wie Blei (damals noch im Benzin), Cadmium in Farben, dann das ganze Thema Chlorchemie, Dioxin durch die Verbrennung von PVC. Überhaupt: die PVC-Krankheit, von der vor allem die PVC-Arbeiter selbst betroffen waren. Es kam heraus, dass bei Dynamit Nobel viele Arbeiter daran elend zugrunde gegangen sind. 

Solche Themen wurden dann auch von der Gesundheitsbewegung aufgegriffen, die sich ja zunächst gegen die herrschende Medizin mit ihren reaktionären Päpsten in Weiß richtete, die sich gut bezahlen ließen von der Chemieindustrie, um Gefahren zu verharmlosen. So kamen damals die Dinge zusammen. Wir gründeten in vielen Städten Gesundheitsläden als Treff- und Aktionspunkte für kritische Medizin, und in einigen dieser Gesundheitsläden bildeten wir Arbeitskreise zu arbeits- und umweltmedizinischen Themen.

Können Sie einige Beispiele über entsprechende Aktivitäten beschreiben?

Bei der Bremer Vulkan-Werft gab es in den 1970er und 1980er Jahren viele Aktionen gegen das tödliche Asbest. Die Industrie ignorierte ja immer noch konsequent alle Warnungen, die es schon seit den 1920er Jahren gab. Bereits in den 1960er Jahren gab es durchaus schon Vorschriften zu Schutzmaßnahmen: Absaugung, auch Atemmasken, wenn die Absaugung nicht hundertprozentig funktionierte. Doch in den Betrieben wurden diese Maßnahmen nicht umgesetzt. Bei Vulkan bunkerte die Geschäftsleitung warnende Briefe und Schutzanweisungen der Gewerbeaufsicht. Meiner Ansicht nach war das eine durchweg kriminelle Haltung der Manager. Dagegen gingen aktive Leute im Betrieb vor, vor allem die Gruppe „Echolot“. Sie verteilten Flugblätter und forderten die Kolleg/innen auf, sich der schutzlosen Arbeit mit Asbest zu verweigern. 

Die Gruppe hatte dann auch Vertreter im Betriebsrat. Sie wurde unterstützt durch eine Gruppe von Wissenschaftler/innen der Uni Bremen, die damals noch den Anspruch hatte, die kritische Praxis in Betrieb und Gesellschaft zu fördern. Es gab dann mehrere umfassende und die gesamte Belegschaft einbeziehende Befragungen zu Belastungen und Gesundheitsschäden, die von der Uni-Gruppe ausgewertet wurden und dann wieder im Betrieb auf Betriebsversammlungen zurückgespiegelt wurden. Ich selbst war Anfang der 1980er Jahren in Bochum und in Ludwigshafen an ähnlichen Aktionen beteiligt, z. B. zum Thema gesundheitsschädliche Kühlschmierstoffe in Metallbetrieben.

Warum hört man heute so wenig von derartigen Aktivitäten?

Nun ja, die Zeiten haben sich sehr verändert. Vieles von unseren Forderungen wurde scheinbar integriert, doch nur scheinbar. Denn jetzt ist alles fluide, jetzt sollen alle, auch die Arbeiter/innen „ganz unten“, unternehmerisch denken und fühlen, und jetzt sollen alle selbst für ihr Schicksal verantwortlich sein. Das gesamte Koordinatensystem hat sich verändert. Es wurden auch viele Themen von damals in den offiziellen Diskurs „Public Health“ aufgenommen, wenn auch teilweise nur sehr halbherzig.

Können auch Wohnungen krank machen?

Ja. Arme Familien wohnen häufig in problematischen Mietskasernen, in Wohnblocks, deren Bausubstanz noch voller Schadstoffe ist. Etwa in Dichtungs- und Fugenmassen, in Bodenbelägen, in den Wänden. Zum Beispiel Polychlorierte Biphenyle (PCB). Die sind heute zwar verboten, aber noch in den 60er und 70er Jahren wurde damit gebaut. Die Erfassung und auch die Schutzvorschriften sind völlig unzureichend. Den Leuten wird gesagt: „Ok, Eure Wohnqualität ist nicht super, es gibt Schadstoffe, aber alles noch in den erlaubten Grenzwerten.“ Dann ziehen die Wohlhabenden weg, die Armen bleiben. Vor allem sind die Kinder betroffen. Epidemiologische Studien zeigen, dass für Kinder in PCB-belasteten Wohnungen ein erhöhtes Leukämierisiko besteht. Der Umweltwissenschaftler Herbert Obenland und ich haben dazu in unserem Buch „Schadstoffe und Public Health“ berichtet.

Kennen Sie Untersuchungen, die sich damit befassen, wie sich vielbefahrene Straßen oder Industriesmog auf die Gesundheit der Bewohner/innen auswirken?

All das ist der Gesundheit abträglich. Lungen- und Herz-Kreislauferkrankungen sind die Folge. Vor allem Dieselabgase sind hochproblematisch, auch weil man die Feinstäube nicht sieht. Niederländische Wissenschaftler konnten zeigen, dass schon die normalen Konzentrationen, wie sie üblicherweise in unseren Innenstädten herrschen, vor allem an Kreuzungen und Schnellstraßen, das Lungenkrebsrisiko merklich erhöhen. Da geht es in Deutschland letztlich um sehr viele Krebsfälle, die vermeidbar wären, wenn die Politik den Diesel beschränken und die Grenzwerte senken würde. Doch die deutsche Autoindustrie ist immer noch sehr stark, sie hat eine riesige Lobby, und in der Wissenschaft hierzulande merkt man förmlich die innere Zensur. Dazu ließe sich viel sagen – das wäre ein eigenes großes Thema.

Krankmachende Wohnungen werden immer mit dem 19. Jahrhundert in Verbindung gebracht. Halten Sie – wie bei der Arbeit – auch beim Wohnen das Thema Gesundheit weiter für aktuell?   

Ja, genau, aus den Gründen, die ich eben andeutete. Und ich muss sagen: In der Public-Health-Forschung wird viel zu sehr auf Themen gesetzt, die den individuellen Lebensstil betreffen. Dicke Kinder essen zu viel Süßes und zu viel Pommes. Statt einmal den Blick auf die Wohnverhältnisse und die Lebensverhältnisse insgesamt zu lenken. Die Wohnsilos enthalten nicht nur Wohngifte, sie sind auch schrecklich öde. Beton macht krank, das schreibt bereits Alexander Mitscherlich in seiner Studie „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“, die 1965 herauskam. Wenn dann noch Infrastruktur, Grünflächen, Spielplätze usw. abgebaut werden, dann retten sich Kinder ins Frustessen. Im Grunde spielen hier alle gesellschaftlichen Themen hinein: Prekäre Arbeitsbedingungen der Erwachsenen, Niedriglohn, Stigmatisierung, Diskriminierung, Ausgrenzung usw. Arme Familien werden genau in solche Wohngegenden abgedrängt, die sie – zusätzlich zu allen anderen Problemen – krank machen.

Wie müsste denn die Gesundheitsversorgung gerade in Gebieten mit einkommensarmer Bevölkerung aufgestellt werden?

In den ärmeren Stadtteilen in Bremen werden zum Beispiel Gesundheitskioske und Gesundheitsberatungsstellen aufgebaut. Das ist eine löbliche Sache, auch wenn das die zugrunde liegenden, strukturellen Probleme nicht lösen kann. Vielleicht schafft es ja die linke Gesundheitssenatorin, dass im Zuge der Krankenhausreform in den armen Stadtteilen kleine Versorgungszentren eingerichtet werden. Denn dort gibt es kaum noch niedergelassene Arztpraxen. Die gehen alle in die reichen Stadtteile.

Es gibt auch Modelle, die von Basisinitiativen wie der Blauen Karawane (ein Verein von Psychiatrieerfahrenen und deren Angehörigen) entwickelt wurden: In die Stadtteile integrierte Anlaufstellen und Versorgungseinrichtungen kombiniert mit kollektivem Leben, wo sich Menschen treffen und miteinander kommunizieren und sich gegenseitig unterstützen können. Doch die etablierten Institutionen, wie z. B. die großen Krankenhäuser, fürchten Umsatzverluste und stellen sich dann leider oftmals diesen neuen Initiativen in den Weg. Ich wünschte mir deshalb eine Wiederbelebung einer breiteren Gesundheitsbewegung, die Druck auf die Politik ausüben kann. Und selbstverständlich wünschte ich mir, dass auch hinsichtlich der Arbeitsbedingungen sich die Menschen nicht mehr diese physische und psychische Ausbeutung und Auspressung gefallen lassen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Peter Nowak.

 

Wolfgang Hien ist Arbeitswissenschaftler und Medizinsoziologe und Leiter des Forschungsbüros für Arbeit, Gesundheit und Biographie in Bremen. Er beschäftigt sich mit krankmachenden Stoffen in der Wohn-und Arbeitswelt. Sein Buch „Die Arbeit des Körpers von der Hochindustrialisierung bis zur neoliberalen Gegenwart“ erschien im Mandelbaum-Verlag.


MieterEcho 442 / Juni 2024

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