Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 440 / Mai 2024

Ein Stadtteil voller Sprünge und Brüche

Seit der Wiedervereinigung Berlins ist Friedrichshain ein Hotspot der Verdrängung durch die renditegetriebene Immobilienwirtschaft

Von Rainer Balcerowiak

Wer heute durch Friedrichshain flaniert, kann die Vergangenheit und Gegenwart dieses innerstädtischen Bezirks wie im Zeitraffer erleben. Die von ikonischen Turmbauten des DDR-Stararchitekten Hermann Henselmann begrenzte Karl-Marx-Allee, die von 1949 bis 1961 Stalinallee hieß, symbolisiert mit ihren „Arbeiterpalästen“ und ihrem Charakter als Flaniermeile den selbstbewussten Anspruch der DDR, ein repräsentatives Aushängeschild der sozialistischen Hauptstadt zu schaffen. Jenseits dieser Magistrale und in Richtung Ostbahnhof und Bahnhof Ostkreuz findet man die extrem dicht bebauten Arbeiterquartiere der Gründerzeit, die längst zu Hotspots der Aufwertung und Immobilienspekulation geworden sind. Dies gilt auch für jene Teile Friedrichshains, die sich an der Spree befinden wie die Stralauer Vorstadt.   

Erstmals erwähnt wurde der Name Friedrichshain 1840, als beschlossen wurde, zu Ehren der 100-jährigen Thronbesteigung von Friedrich II. einen großen Volkspark zu schaffen. 1847 waren die Arbeiten beendet. Doch aus der monarchistischen Kultstätte entwickelte sich alsbald ein Symbol der bürgerlichen Revolution. Am 22. März 1848 fanden in seinem südwestlichen Teil die Opfer der Revolution ihre letzte Ruhestätte. 1920, als Berlin mit sieben weiteren Städten, 59 Dörfern und 27 Gutsbezirken zusammengeschlossen und territorial neu gegliedert wurde, erhielt der südlich vom Volkspark Friedrichshain gelegene Verwaltungsbezirk dessen Namen. 

Zu dieser Zeit hatte der Bezirk bereits eine atemberaubende, sprunghafte Entwicklung hinter sich. Prägend für den Charakter des gesamten Quartiers wurde 1842 der Frankfurter Bahnhof (heute Ostbahnhof) erbaut und stetig erweitert. Seine Umgegend wurde Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem großflächigen Transport-, Umschlags- und Versorgungszentrum des auf dem Sprung zur europäischen Metropole befindlichen Berlins. Güterbahnhöfe, Eisenbahnwerkstätten, der Vieh- und Schlachthof, Speichergebäude entlang der Spree sowie Maschinenbau-, Textil-, Tischlerei-Fabriken, Wasser- und Abwasserwerke, eine Gasanstalt sowie mehrere Brauereien siedelten sich an und das erste städtische Krankenhaus entstand. Im Aufschwung der Gründerjahre nach 1871 setzte explosionsartig die Wohnbebauung für die Arbeiterfamilien ein, die hier unmittelbar neben ihren Arbeitsstätten wohnten. 

Metamorphose eines Arbeiterquartiers

Friedrichshain war in dieser Zeit das Herz des Berliner Ostens. „Berliner“ waren hier die zugewanderten Landarbeiter-, Handwerker- und Kaufmannsfamilien aus Ost- und Westpreußen, Schlesien, Pommern und Brandenburg, die in diesem Stadtteil ihr Auskommen suchten. Die Verbindung der Mietskasernen mit ihren Hinterhof- und Kellerwohnungen und den Fabrikbauten auf engstem Raum ließen ein klassisches proletarisches Stadtquartier wachsen, bald dominiert von Sozialdemokrat/innen und später auch Kommunist/innen. Mit einer Fläche von 9,1 qm war Friedrichshain bei seiner Eingliederung in Groß-Berlin der kleinste der zwanzig Berliner Verwaltungsbezirke. Doch die enorme bauliche Verdichtung führte dazu, dass er knapp 20 Jahre später mit knapp 350.000 Einwohner/innen der bevölkerungsreichste war. Jetzt leben dort rund 137.000 Menschen, doch noch immer gehören einige Teile des Bezirks, vor allem im nördlichen Bereich, zu den an dichtesten besiedelten Quartieren Berlins.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – der auch in Friedrichshain zu erheblichen Zerstörungen geführt hatte – und der faschistischen Diktatur begann der Wiederaufbau unter sozialistischen Vorzeichen. Dabei fokussierte sich die Wohnungspolitik der DDR auf Neubau, was in den alten Arbeiterquartieren angesichts begrenzter Ressourcen zu dem führte, was neudeutsch als „Sanierungsstau“ bezeichnet wird. Viele Wohnungen und Häuser verfielen und waren nur noch eingeschränkt bewohnbar. Das machte Friedrichshain – wie auch Prenzlauer Berg – in den 1980er Jahren zum Anziehungspunkt einer Art „alternativen Szene“, und es etablierte sich eine DDR-spezifische Hausbesetzer-Variante. Man zog einfach ohne die eigentlich notwendige Zuweisung durch die kommunale Wohnungsverwaltung in leerstehende Wohnungen ein, besorgte sich mit allerlei Tricks und Kniffen eine Anmeldung, bekam schließlich in vielen Fällen nachträglich einen regulären Mietvertrag und konnte die Wohnung dann mit viel Eigenleistung einigermaßen in Schuss bringen. Das alles war zwar im Prinzip illegal, wurde aber stillschweigend geduldet.

Mit dem Ende der DDR und der Wiedervereinigung Berlins änderte sich ab 1990 so ziemlich alles. Der Bezirk wurde konsequent deindustrialisiert und verschachert. Aus alten Arbeiterquartieren und ihren Kiez-Treffpunkten wie dem Boxhagener Platz wurden profitträchtige Investments und angesagte Quartiere für begüterte Zuzügler. Hausbesetzungen, und davon gab es etliche in dieser Phase in Friedrichshain, wurden in der Regel nicht mehr geduldet und teilweise mit brachialer Polizeigewalt beendet. Frühes Symbol dieser Entwicklung war die legendäre Schlacht in der Mainzer Straße im November 1990, die sogar zum Bruch der rot-grünen Koalition aus SPD und Alternativer Liste führte, die damals – anders als die heutigen Grünen – noch gewisse Verbindungen zu antikapitalistischen Bewegungen hatte. 

Auch in den kommenden Jahren kam es immer wieder zu Räumungen, wie etwa 2011 das bereits 1990 besetzte und zeitweilig sogar legalisierte Hausprojekt in der Liebigstraße 14. Es gibt noch einige Inseln der Widerständigkeit. So konnten alle Versuche, das autonome Hausprojekt Rigaer Straße 94 samt der dazugehörigen Kneipe „Kadterschmiede“ zu räumen, abgewehrt werden, da die Eigentumsverhältnisse der Immobilie auch in mehreren Gerichtsinstanzen im Unklaren blieben und daher keine vollstreckbaren Räumungstitel erwirkt werden konnten. Und nach wie vor gibt es in dem Bezirk viele örtliche Initiativen, die sich massiv gegen Aufwertung und Verdrängung zur Wehr setzen, etwa gegen das Projekt Media Spree. 

Verdrängung weitgehend vollzogen

Doch das Erscheinungsbild des Bezirks, der seit der 2001 vollzogenen Zusammenlegung mit Kreuzberg keine eigene Verwaltung mehr hat, hat sich deutlich verändert. Die Gründerzeitquartiere im Osten des Ortsteils sind inzwischen ein klassisches Szene- und Kneipenviertel, vor allem der Bereich südlich der Frankfurter Allee und östlich der Warschauer Straße. Zentrum dieses Kneipenbereichs ist die Simon-Dach-Straße. „Boxi“ und RAW-Gegend sind touristische Tempel fast aller jüngeren Berlin-Besucher. 

Die Verdrängung der alteingesessenen Bewohner/innen Friedrichshains ist weitgehend vollzogen, und das einst dörfliche Stralau ist zu einer hochpreisigen Wohlfühloase für Betuchte geworden. Die Sozialindexdaten der meisten Friedrichshainer Planungsräume haben sich dementsprechend verbessert. Das spiegelt sich auch in den politischen Verhältnissen wider. In fast allen Wahlkreisen Friedrichshains dominieren inzwischen deutlich die Grünen. 

Zwei Gebiete gehören allerdings auch im stadtweiten Vergleich zu den ärmsten Planungsräumen der ganzen Stadt. Das betrifft zum einen den Barnim-Kiez (zwischen Mollstraße, Otto-Braun-Straße, Friedensstraße und Volkspark). Dort leben 38% der Personen unter 15 Jahren und 23% der Personen unter 65 Jahren in Bedarfsgemeinschaften nach SGB II, beziehen also Bürgergeld. In diesem Bereich leben ferner signifikant mehr Rentner/innen und Pensionäre als in anderen Bereichen Friedrichshains.   

Auch im Gebiet um den Wriezener Bahnhof (zwischen den S-Bahnbögen Warschauer Straße und Ostbahnhof und der Mühlenstraße) gibt es einige signifikante Ausreißer. So ist dort der Anteil der Rentner/innen, die auf Grundsicherungsleistungen angewiesen sind, mit 23% extrem hoch. Der Anteil der Neuschüler/innen (Erstklässler) aus „Familien mit niedrigem Sozialstatus“ stellt mit 53% einen bezirklichen Spitzenwert dar.

Derweil ist eine zweite Gentrifizierungswelle längst auf vollen Touren. Die Zeit der zahlreichen mehr oder weniger„alternativen“ Entrepreneure läuft allmählich ab. Viele in der Nachwendezeit entstandenen und zeitweilig sehr angesagten Clubs, Bars und Galerien mussten bereits schließen, weil sie auf dem renditegetriebenen Immobilienmarkt nicht mithalten konnten. Dabei waren sie es, die den Ruf des  „Szene-Bezirks“ erst begründeten. Und der geplante Ausbau der Stadtautobahn A 100 durch Friedrichshain könnte noch etlichen weiteren den Garaus machen. Doch für die zahlreichen von Verdrängung bedrohten Mieter/innen in diesem Halbbezirk dürfte dies ein eher zweitrangiges Problem sein.


MieterEcho 440 / Mai 2024

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