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MieterEcho 441 / Juni 2024

Editorial

Editorial MieterEcho

Liebe Leserinnen und Leser,

der Architekt, Stadtplaner und Journalist Maik Novotny widmete sich unlängst im Wiener Standard der Frage: „Warum sich rechte Gruppen plötzlich mit Architektur beschäftigen“. Eine Antwort verweist auf das globale Erstarken extrem rechter Gruppen, denn – so der von ihm zitierte britische Architekturkritiker Robert Bevan – „Schönheit und Tradition seien Codewörter für weiße Suprematisten geworden, die an den Großen Austausch glauben, an das Ende des christlichen Europa durch Immigration“.Bis zu welchem Grade Rechtsextreme rückwärtsgewandte „schöne“ Architektur und Furcht vor Immigration verbinden, führte Harald Laatsch von der AfD in einer Rede im Abgeordnetenhaus zu den Planungen am Molkenmarkt vor. „Die Gestaltung der Mitte Berlins muss der Wichtigkeit dieses Ortes entsprechen“, und „es kann nicht angehen, dass in der Mitte der Hauptstadt Sozialbauten entstehen, die der Gestaltung an dem Ort nicht gerecht werden.“ „Wie stellen Sie sich das denn vor?“, so seine rhetorische Frage. „Sollen da Satellitenschüsseln auf Balkonen und Bettlaken vor den Fenstern das prägende Bild der deutschen Hauptstadt sein, soll die Mitte Berlins von jungen Männern besiedelt sein, die ihre Pässe ins Mittelmeer geworfen haben und von deren Vergangenheit wir nichts wissen? Wir wünschen uns eine historisierende Bebauung. Ich möchte eine ansehnliche Berliner City, eine, die das Auge erfreut.“

Die Diskriminierung migrantischer Berliner/innen genügt dem Herrn Laatsch nicht, er muss sie auch noch in Gegensatz zu einer historisierenden Bebauung, „die sein Auge erfreut“, setzen. Vor dieser Art Bebauung kann es einem nur gruseln.Fast könnte man erleichtert sein, dass es den Vertretern der Zivilgesellschaft, die mit aller Kraft die Berliner Altstadt gestalten wollen, nicht darum geht, das Auge des Herrn Laatsch zu erfreuen, aber in dem Einladungstext zu einer Veranstaltung des Berliner Kammergerichts mit Benedikt Goebel – dem Vorstand der Stiftung Mitte Berlin – als Referenten, heißt es in durchaus ähnlichem Geist: „Stadtmitten sind als Orte gesteigerter Lebensfreude zu gestalten – nicht als soziale Brennpunkte!“ Zeigen sich hier Verwandtschaften, so ist mit dem geplanten retrospektiven Stadtumbau der Planungsgruppe Stadtkern und anderer zivilgesellschaftlicher Initiativen weniger die irrationale Furcht vor Satellitenschüsseln und weißen Bettlaken, als die rationale Absicht einer Ökonomisierung und Privatisierung der Innenstadt verbunden. Eine Voraussetzung ist die „Harmonisierung“ der deutschen Geschichte an diesem Ort, und dafür ist historisierende Architektur in besonderer Weise geeignet.

Ihr MieterEcho


MieterEcho 441 / Juni 2024