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MieterEcho 437 / Dezember 2023

Wie die Stadt zur Beute wurde

Ein Rückblick auf das „Planwerk Innenstadt“ und seine verheerenden Folgen für die Stadtentwicklung

Von Simone Hain

Am 29. November 1996 fand im Diplomatensaal des ehemaligen Staatsratsgebäudes am Schlossplatz die 60. Sitzung des als öffentliche Diskursarena für Stadtentwicklung eingerichteten Berliner Stadtforums statt. Das war die Geburtsstunde des sogenannten „Planwerks Innenstadt“ .
Als habe die Politik jeglichen Überblick über die eskalierenden Investorenplanungen verloren, wurde es in der Einladung als lange fällige „Texturplanung“ und zusammenfassende Erfassung aller Projekte für jenen Bereich der Berliner Innenstadt beworben, den Planer gern als „Hundekopf“ bezeichnen.

Es war der Auftakt zu einer mehrmonatigen Debatte, deren „Hitzigkeit“ der einladende Mitarbeiter Philipp Meuser bereits kumpelhaft voraussagte. In der Fraktion der SPD waren schon Wetten darauf abgeschlossen worden, wer bei der Sache den Kopf (oder vielmehr den Job) verliert. In der Tat war das damals unterbreitete, von zwei direkt beauftragten freien Planergruppen erstellte Planwerk eine krasse Provokation, an der die Stadt noch heute hart zu schlucken hat. Unter der Überschrift „Landnahme nach Gutsherrenart“ brachte der Tagesspiegel den unerhörten Vorgang damals auf den Punkt. Es handelte sich um einen aus zwei Bearbeitungsgebieten bestehenden Plan, der im aufgelockert bebauten Westen der Nachkriegsära städtebaulich, wo es eben ging, nach Verdichtungspotentialen suchte, indem er in erster Linie Blockrandstrukturen und alte Baufluchten restituierte. 

Das war ein ästhetischer Angriff auf den legendären „Himmel über Berlin“ und die im Wiederaufbau ausgeweiteten Panoramen, der faktisch auf eine Vernichtung der Arbeit von Hans Scharoun hinaus wollte, den der Architekturprofessor Julius Posner als eine „wirkende Macht“ gesehen hatte. Nicht die fetischisierten Objekte der Rendite standen damals im Fokus von Stadtentwicklung, sondern alle offenen Formen des unter den Menschen Seins. Nicht nur die Philharmonie ist in diesem Sinne als ein „Zelt der Begegnung“  und Superzeichen für den Neubeginn verstanden worden, sondern der ganze Städtebau als eine gebaute Demonstration des „Nie wieder“. Die ganze gebaute Niedertracht abräumen, im Urstromtal noch mal neu beginnen. Deshalb wohnten auch Wim Wenders‘ liebevolle Engel dort.

Reparzellierung im „Ossizoo“

Im Ostteil der Innenstadt handelte es sich um einen hoch detaillierten Reparzellierungsplan, der verrückterweise unverzichtbare Straßentrassen, Parkanlagen und solitäre Landmarken wie Fernsehturm oder Ahornblatt in heftigste Bedrängnis brachte oder einfach durch gebaute Wohnensembles an der Liebknechtstraße und Karl-Marx-Allee pflügte. Das Konzept, einfach auf die im Osten wie Westen modern wiederaufgebaute, wunderbar grüne und mieterfreundliche Stadt rücksichtslos das Bebauungsschema der „größten Mietskasernenstadt der Welt“ zu legen, ging im Wesentlichen auf die persönlichen Ideale des planenden Theologen und Stadttheoretikers Dieter Hoffmann-Axthelm zurück. 

Während die Eingriffe in den Westteil traditionell perspektivisch auf räumliche Lesbarkeit abgestellt waren und die weitgehend ungebrochene „gutbürgerliche Stadtqualität“ nicht in Frage stellten, setzte Hoffmann-Axthelm zusammen mit dem Architekten Bernd Albers im Ostteil lustvoll auf „schwarze Architektur der Durchkreuzung“, wie er die wirkungsvolle Zersetzung jeglicher Lesbarkeit einmal bezeichnet hat. 

Dieser Teil der Stadt galt als ungestalte „Modernebrache“, als unaufgeräumter „Ossizoo“, der von „Urbaniten“ neu aufgesiedelt werden müsse. Überhaupt schlug der Ton dem Fass den Boden aus. Entwürdigender konnte die Begleitmusik zur „Operation am offenen Herzen“ der Stadt, dem großen „Jahrhundertprojekt“ nicht sein. So ergoss sich das böse Blut des aggressiven Antikommunismus in die Stadt. Unter der Frage „Deutschland, was nun?“ hatten 1991 die Publizisten Arnulf Baring und Wolf Jobst Siedler das Wort von den „verzwergten Ostdeutschen“ und der „Kolonisierung“ als notwendiger Aufbauarbeit geprägt, im Planwerk ist es fünf Jahre später faktische Immobilienpolitik geworden. 

Gern hätte der damalige Senatsbaudirektor Hans Stimmann dem geistigen Vorreiter Wolf Jobst Siedler persönlich das erste Wort zum Plan erteilt. Angefragt war er, aber er nahm die Einladung nicht an. So musste Stimmann bei der Veranstaltung selber über jene Stadtplaner-Bande im Osten richten, die die bürgerliche Stadt auf dem Gewissen habe. Ungefiltert wendete er Barings Verdikt, dass die DDR-Bürger/innen nichts gelernt hätten und nicht zu gebrauchen seien, nun auch auf die Kollegen Architekten im Osten an. Diese beherrschten „nicht mal die simple Formel zur Berechnung eines Mauerbogens“. Dieser eine diffamierende Satz hat auf immer das Tuch zwischen West und Ost zerrissen. Es war die Auswahl seiner Multiplikatoren, die Suche nach dem Hintergrund der wie Geschosse eingesetzten Worte, die mit einem Male Klarheit schuf. Die publizistische Begleitung, das einpeitschende Stakkato zur Befeuerung der Planbilder, war ein schlagender Ausfluss von rechter „Geschichtspolitik“. 

An diesem Tag fing das große Canceln und Framen an. Wenn man die Punkte verbindet, stößt man auf einen ganzen Berg von entsprechender Literatur. Hinter Stimmann wurde ein Netzwerk erkennbar, das seit dem Fall der Mauer die Definitionsmacht über Geschichte sukzessive an sich gerissen und seither an einer politischen „Alternative“ gewerkelt hat. 1993 kam unter dem Titel „Westbindung“ die darauf gerichtete Denkübung an die Öffentlichkeit. Seither wird unablässig und mit hoher strategischer Schlagkraft an allen historiographischen Stellschrauben gedreht. Historiker wie der Mitherausgeber Rainer Zitelmann verdienten sich in der Immobilienbranche weit mehr als nur eine goldene Nase. Firmen wie seine pb3c übernahmen das strategische Marketing und den politischen Lobbyismus für die Immobilienwelt. Besonders erfolgreich gelang das am Berliner Molkenmarkt, wo der Senat über das Vehikel „Der große Jüdenhof“ und die Aussicht auf den Fund einer Mikwe zu einem Rekonstruktionsbeschluss bewegt werden konnte.  

Perfider Plan für die bankrotte Stadt

Man mag diese Akteure als intellektuell, konservativ, melancholisch oder wutbürgerlich betrachten, in der gebauten Umwelt, im konkreten Umgang mit Menschen und Architektur aus der DDR zeigte sich aber ihr wahrer Charakter. An dieser speziellen Front, im Kampf um Geltung, Definitionsmacht und Evidenz, werden sie nämlich militant. Da gibt es keine Intellektualität, Empathie oder Ambivalenz mehr. Wenn man dem Gespräch zwischen Siedler und Baring aufmerksam folgt, stellt sich der Verdacht ein, dass es sich um Utopie-Neid handeln könnte. Als wenn sie souveräne Menschen nicht aushalten könnten. So hat es auch der Journalist Klaus Hartung gesehen: „Ihnen leuchtet noch immer die untergegangene Sonne der Moderne.“

Das zweite verstörende Phänomen neben der entgleisten Sprache war der völlige Gesichtsverlust, ja soziale Verrat der Berliner SPD. Wolfgang Nagel hatte seine in die Wiedervereinigung fallende Amtszeit als Senator für Bau- und Wohnungswesen noch mit einer dem Erbe Bruno Tauts gewidmeten Ausstellung und Wohnbaukampagne feiern lassen: „Vision und Reform.“ Gern hat die von Abwicklung betroffene Bauakademie der DDR ihm dieses Geschenk noch gemacht. Ein neues Bauen sollte Berlins großes Potential an sozialem Wohnbestand in Ost- und West zum Aushängeschild der Wiedervereinigung machen.

Doch dann ließ die Immobilienbranche entlang der Mainzer Straße in Friedrichshain kurz nach der Wiedervereinigung Polizeieinheiten aus mehreren westlichen Bundesländern und das SEK vom Bundesgrenzschutz von der Leine. Heftiger konnte die Absage an die „friedlichen Revolutionäre“ im Osten nicht sein. Die als Menschenkette herbeigeeilten Demokraten vom „Runden Tisch“ blickten buchstäblich in Gewehre. Der links-alternative Senat zerbrach und der rote Schal des Regierenden Bürgermeisters Walter Momper flatterte bald schon auf Immobilienmessen. Rote wie Grüne mussten sich in der Eigentumsfrage entscheiden, wollten sie jemals wieder an die Macht kommen. Dass auf diesem Terrain mit harten Bandagen gekämpft wird, zeigt das Schicksal von Hanno Klein. Der Investorenbeauftragte der SPD fand durch einen Briefbombenanschlag ein brutales, nie aufgeklärtes Ende. Manchmal reicht es offenbar nicht aus, nur verbal Angst einzuflößen. 

Peter Strieder (SPD) kam 1996 im Zuge der maßgeblich von der CDU zu verantwortenden Bankenkrise in der „arm aber sexy“-Epoche zu Senatorenrang. Das Zustandekommen einer von der PDS tolerierten rot-grünen Minderheitenregierung war wesentlich sein Verdienst. Das bereits länger vorbereitete „Planwerk Innenstadt“ sollte der nächste politische Schachzug, nun im Amte des Stadtentwicklungssenators, sein: ein Riesenzukunftsprojekt, für die schlagartig unter Finanzaufsicht gestellte, völlig handlungsunfähige Stadt. Absicht war, noch vor Jahresende einen positiven Senatsbeschluss herbeizuführen und Rot-Grün-Rot an diesen Plan zu binden.

Der Koalitionspartner, die Linken-Fraktion und die Bezirksbaustadträtinnen (alles damals Frauen) der betroffenen Bezirke waren seit Anfang des Jahres vertraulich in Kenntnis gesetzt worden. Wodurch sich ein Leck auftat, das einer kleinen Gruppe um die Scheinschlag-Redakteurin Ulrike Steglich ausreichend Handlungsvorsprung verschaffte. Für die öffentliche Präsentation hatte Strieder sich auf Investorenseite zunächst mit der Bitte an Klaus Groth von Groth + Graalfs Wohnbau gewandt, unter dem Tagesordnungspunkt Vermögensaktivierung öffentlich eine städtebauliche Kalkulation vorzutragen. Vermutlich, um Stimmanns gigantischem Reparzellierungsplan, über den Menschen von Verstand und Ehre unter vorgehaltener Hand nur lachten, den Anschein von wirtschaftlicher Relevanz und Berechenbarkeit zu geben. Vielleicht auch ein Geschenk, aber der der CDU angehörende Investor fremdelte mit dem SPD-Mann Strieder noch und ließ jedenfalls ausrichten, er wolle „hier nicht mehr teilnehmen“. 

Überraschenderweise nahm schließlich kurzfristig Gisbert Dreyer von Roland Ernst Städtebau und Projektentwicklung dessen Aufgabe wahr, der – obwohl nicht zum Westberliner Kartell gehörig und von diesem seit ewigen Zeiten abgewehrt – damals bereits Berlins interessantester Großinvestor war. Er agierte nicht nur als einer der drei ganz Schnellen am Potsdamer Platz, er hatte auch die zentralen Grundstücke der Erben des jüdischen Philanthropen Jacob Michael an sich gebracht. 58 zentrale Grundstücke, große und kleine, für schlappe 300 Millionen Mark, die ihm als sogenannte Schickanierparzellen strategische Vorteile brachten, machten ihn zum König im Berliner Monopoly. 

Ausgerechnet diese Grundstücke, in der späteren Insolvenzmasse wohl umverteilt, sind der Grundstock für das retrospektive Bauen geblieben, mit dem sich Berlin, ob am Molkenmarkt oder unter dem Fernsehturm, bis zum heutigen Tage herumschlagen muss. Aktuell wird von dem Stadtforscher Benedikt Goebel argumentiert, die jüdischen Erben hätten damals, als der Diepgen-Vertraute Karlheinz Knauthe als Anwalt der Beisheim Holding GmbH jenseits des Bundesrechts in Berlin die deutschen Giganten bediente, viel zu geringe Erlöse erzielt, und seien – falls nach Bundesrecht entschädigt – gewissermaßen von Staats wegen beraubt worden. Die Betonung jüdischer Ansprüche und Beschwörung vergangenen jüdischen Lebens wird als Trigger eingesetzt, um die zugunsten der Allgemeinheit längst entschiedene Eigentumsfrage immer wieder neu aufmachen zu können. Immer wieder Bruch mit dem Bundesrecht.   

Stadtplanung in Investorenregie

Beide zum 60. Stadtforum geladenen und damit von Strieder besonders umworbenen Entwickler waren mit Immobiliengeschäften aus dem Volkseigentum der DDR zu Riesen geworden, sie profitierten als Kunden der Treuhand und Nutznießer der 50%igen Sonderabschreibungen des Bundes gleich doppelt. Groth + Graalfs hatten sich den staatlich subventionierten Wohnungsbau, in Berlin-Karow oder am Kirchsteigfeld in Potsdam, zum Erfolgsrezept gemacht und auf den Rieselfeldern der Stadt Berlin oder im unverbaubaren Niederungsland bei Potsdam, auf schlechtestem Grund, beim Goldschürfen Rauschzustände erlebt. Wie immer in der Berliner Geschichte waren diese Landeszahlungen und Bürgschaften an das Kartell Ursache der folgenden Krisen. Immer war am Ende das Geld weg, das sollte auch Peter Strieder mit dem Kreuzberger Tempodrom ereilen. Und jedes Mal musste das Land reprivatisieren, Verwaltung verschlanken und die Landeseigenen Wohnungsunternehmen schröpfen oder, wie im Fall der Nachverdichtung nach Paragraph 34, gegen die Mieter/innen scharf machen. Die Stadt als Beute, gewissermaßen. 

Ausgerechnet der Vertreter von Roland Ernst reagierte mit großer Betroffenheit auf die Stimmann-Striedersche Präsentation. Dreyer war nach der Vorstellung der Pläne und den ersten Reaktionen des Publikums außerordentlich angefasst von der „unglücklichen“ Art der Planung und den sich planungskulturell abzeichnenden Schäden. Er, ein ausgebildeter Architekt, bemängelte den konspirativen Charakter der Planung, von dem fachlich kompetente, politisch engagierte, wie politisch verantwortliche Personen ausgeschlossen worden waren. Der Investorensprecher empfahl, sich der massiven Kritik an diesen Umständen zu unterwerfen. Wenn er Stimmann oder der Senator wäre, würde er einen Kotau machen und sich Asche aufs Haupt streuen. 

Und dann nahm Dreyer mit echter persönlicher Sorge die Aufgaben der verarmten Stadt als Eigentümer und als öffentliche Institution wahr. Er schien mit einem Male der einzig Vernünftige im Saale zu sein. Stocktrocken zog er Bilanz und setzte seine Worte so präzise, damit nur kein Zweifel übrig blieb. Erkennbar sei, dass die Planer die Innenstadt verdichten und aus dem gegenwärtig anders gewidmeten Boden notwendige Erlöse zu ziehen wünschten. Eine Außenentwicklung sei ohnehin zu verwerfen. 

Was aber würde das bei genauer Betrachtung bedeuten? Es war der Investor, der den politisch verantwortlichen Sozialdemokraten sachlich die volkswirtschaftliche Sinnfrage stellte.

„1. Was wird genau für wen gebraucht? 2. Wo sind die Reserven für Raum und die Mittel, um den gefragten Bedarf zu decken?“ In größter Nüchternheit stellt der vom Aufruhr der Diskussion beeindruckte Investor fest: „Die Bundesrepublik Deutschland und das Land Berlin als Erben des enteigneten Grundbesitzes des sozialistischen Staates der DDR können insbesondere in Ostberlin Grundvermögen aktivieren und gleichzeitig Prinzipien der zweiten großen Diskontinuität, d.h. die Reprivatisierung der Stadt, also die Rückgabe der Stadt an die privaten Subjekte, organisieren.“ Auf die voran gegangene Vergesellschaftung im gesamten Ostteil der Stadt folge so als ebenso großer Schock die totale Kapitalisierung durch Parzellierung. 

Als sei er im Vorfeld getäuscht worden oder sei es ihm durch die „unglückliche“ Vorbereitung und Präsentation eben erst klar geworden, setzte er seine Gedanken fort und sagte sehr langsam, damit jeder es auch verstehen könne: „Da die dazu erforderliche gewaltige administrative Steuerungsarbeit und die Vereinheitlichung der Planungspraxis bei der beobachteten Überforderung der organisatorisch zersplitterten und zerstrittenen Stadt nicht gelingen kann, müssten als handelnde Organisatoren dieser Rückabwicklung Private auftreten, die im Auftrag der Stadt und hoffentlich auch in ihrem Sinne die projekt-, quartiers- und stadtteilbezogenen Planungen einfordern, befördern, berechnen, und dann auch veranlassen.“

Filmkulissen statt sozialer Stadt

Das würde bedeuten, die öffentlichen Interessen an überschlägig 4 Millionen qm Bruttogeschossfläche (BGF), nebst den vorhandenen konkreten Planungen von 6 Millionen qm BGF an private Entwickler abzugeben. Allein die genehmigten Planungen würden je nach Entwicklungsdynamik die Bedürfnisse im Zeitraum der nächsten 10 bis 15 Jahre tragen. Will man nun wirklich auf die völlig andere Stadt im Osten zugreifen, müsse man das gegen die Zeichen stark verfallender Nachfrage und Erlöserwartungen manipulieren. Der Markt an sich gebe überhaupt keinen Anreiz. Die Borniertheit von Architekten und Stadtplanern stehe aber regelmäßig der entscheidenden Frage im Weg, welche Organisation und welche Institution in einer Stadt nach welchen Kriterien letztlich die Entscheidungen trifft, welche Nutzungen und Bautypen in den im Planwerk Innenstadt ausgewiesenen 15 Millionen qm BGF für zukunftsfähig gehalten werden.

Architekturdebatten à la Stimmann seien gewissermaßen pillepalle, hirnverbrannt. Denn auch in einer Stadt, die alles den Privaten überlässt, muss einer die Bauaufgaben und die sozialen Funktionen und Normen festlegen. Einer muss der Bauherr sein. Eine total entfesselte Privatisierung und völlige Entstaatlichung, der in der selben Veranstaltung unter Berufung auf Osteuropa der Historiker Karl Schlögel das Wort geredet hatte, jener extremistische Marktradikalismus, der sich revanchistisch mit dem Sieg über den Sozialismus Bahn gebrochen hatte, bietet keine sichere Investition. 

Spätestens nach diesem Tag, vor nunmehr 27 Jahren, hätten konstruktive Debatten über ein soziales Wohnbauprogramm beginnen müssen, die auf dem kollektiven Erbe der DDR-Bürger/innen aufbauen. Eine andere Nutzung, als die für das öffentliche Wohl einer lebenswerten Stadt für alle, scheidet im Interesse des sozialen Friedens grundsätzlich aus. Stattdessen wurde unheimlich viel soziale Energie in Planungswerkstätten verschlissen und der Jahrhundertplan nun bröckchenweise durch Raum und Zeit manövriert. Infolgedessen stehen noch immer die absolut willkürlichen Wünsche nach filmreifen Kulissen im Raum, als reine Trigger für das große Landgrabbing. Architekturdiskussionen oder Manipulationen von Bürgerbegehren wie am Molkenmarkt sind weiterhin völlig sinnlos, es kommt darauf an, die Bauziele zu definieren, zukunftsfähige Typologien festzulegen – und mit der wahnwitzigen Enteignung der Bürger/innen endlich zu brechen. 

 

Prof. Dr. Simone Hain ist Architekturhistorikerin, Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung und war zuletzt Leiterin des Instituts für Stadt- und Baugeschichte an der Technischen Universität Graz. Ihre Schwerpunkte sind Stadtforschung und Geschichte des modernen Planens und Bauens.


MieterEcho 437 / Dezember 2023