Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 436 / Oktober 2023

Wenn der Rechtsstaat tödlich wird

Weltweit sind unzählige Fälle von Suiziden nach angekündigten oder vollzogenen Zwangsräumungen dokumentiert

Von Andrea Wiedemann   

Der Musiker Peter Hollinger lebte seit über 30 Jahren in der Adalbertstraße in Kreuzberg. Nachdem das Haus in eine Wohnungseigentümergemeinschaft umgewandelt wurde, erhielt er eine Eigenbedarfskündigung der Vermieterin. Es begann ein zermürbender juristischer Kampf, der sich über mehrere Jahre hinzog. Er endete mit einem rechtskräftigen Räumungstitel und der Ankündigung der Zwangsräumung. Kurz bevor diese vollzogen werden konnte, nahm er sich das Leben. Diese ultimative Entscheidung traf er nicht im Affekt, sondern mit Ansage. Auch dem Gericht, das der Klage seiner Vermieterin stattgab, waren Hollingers Verzweiflung und seine Suizid-absichten bekannt.     


Ein Einzelfall ist dies nicht. Die rechtskräftige Kündigung der eigenen Wohnung und vor allem die Ankündigung der Zwangsräumung stürzt viele betroffene Mieter/innen in eine existentielle Lebenskrise. Rund um den Globus sind zahlreiche Fälle dokumentiert, bei denen Betroffene in dieser Situation den Suizid wählten, weil sie keinen anderen Ausweg mehr sahen. Häufig weisen die betroffenen Personen auch ausdrücklich auf ihre verzweifelte Lage hin. 

Das schwedische Institut für Sozialforschung erarbeitete eine Studie, die den Zusammenhang zwischen Zwangsräumungen und Suizidfällen untersuchte. Das Ergebnis dieser Studie sollte aufhorchen lassen. Demnach steigt die Wahrscheinlichkeit, einen Suizid zu begehen, wenn eine Zwangsräumung angedroht und durchgesetzt werden soll, um das Vierfache. Bemerkenswert an dieser Studie ist zudem, dass der sozioökonomische Status und die mentale Gesundheit keine Faktoren sind, die einen derartigen Anstieg erklären könnten (vgl. Yerko Rojas, Correspondence to Yerko Rojas, Swedish Institute for Social Research (SOFI), Stockholm University, Stockholm SE-10691, Sweden 2015).

Dies führt aber dennoch zu der Frage, warum Menschen in dieser Situation derart verzweifeln, dass sie ihr Leben nicht mehr weiterleben können. Hinterbliebene Angehörige betonen immer wieder: „Wenn die Zwangsräumung nicht gewesen wäre, das jahrelange Leiden, der ständige Stress, dann wäre es nicht dazu gekommen.“  

Angst und Verzweiflung

Demzufolge ist es nicht nur die Zwangsräumung, sondern der gesamte Prozess, der an den Kräften und dem Lebensmut der Betroffenen nagt. Nicht selten dauern solche Gerichtsprozesse von dem ersten Kündigungsschreiben bis zur Zwangsräumung mehrere Jahre. Jahre der Unsicherheit, Jahre der empfundenen Ungerechtigkeit, Jahre der Angst keine neue Wohnung zu finden, Angst vor dem finanziellen Ruin, Angst die gewohnte Umgebung verlassen zu müssen, Angst sich an einem neuen Ort nicht zurechtzufinden, Angst vor der Einsamkeit, Angst vor der Scham, kein Obdach zu haben.

Peter Hollinger lebte seit vielen Jahren zurückgezogen, auch wegen seiner gesundheitlichen Einschränkungen. Die wenigen Verwandten waren bereits verstorben. Bekannte und Freunde wurden mit der Zeit weniger, da er schmerzgeplagt kaum noch seine Wohnung verlassen konnte. Seine finanziellen Mittel reichten für Miete und den täglichen Bedarf. Die Wohnung war seine Welt, und mit der war er zufrieden. Bis zu dem Tag, an dem er die Kündigung erhielt.

Solange das Individuum in der Lage ist, ein stabiles Einzelversorgungssystem herzustellen bzw. aufrechtzuerhalten, könnte es auch ohne Gruppe und Bezugspersonen leben. Aber jegliche Instabilität gefährdet das Individuum in seiner Existenz. Ältere Menschen haben es deutlich schwerer, ein stabiles Netzwerk an sozialen Kontakten aufrechtzuerhalten oder aufzubauen. Die Zahl der Bezugspersonen sinkt mit zunehmendem Alter durch Ausscheidung aus dem Arbeitsleben, Tod oder Wegzug. Gesundheitliche Probleme, kognitive Einbußen, die zu mangelnder Mobilität führen, schränken den Bekanntenkreis weiter ein. Die Versorgung durch die abstrakte Gesellschaft und Teilhabe an dieser ist gefährdet. 

Das betrifft nicht nur ältere Menschen, sondern all diejenigen, die aus welchen Gründen auch immer nicht an der globalisierten Wirtschaft (Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt, Gesundheitsmarkt etc.) teilhaben können. Unsere mobile Gesellschaft und unsere Kommunikationsmöglichkeiten via Social Media sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass persönliche Kontakte und Bezugspersonen wichtig bleiben, um im Notfall ein Netz zu haben. Denn nicht nur der Fall Hollinger zeigt, dass Vertrauen in den Rechts- und Sozialstaat zur gefährlichen Falle werden kann.

 

Andrea Wiedemann ist in Berlin approbierte und niedergelassene Psychotherapeutin.


MieterEcho 436 / Oktober 2023

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