Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 436 / Oktober 2023

Wenn der Körper nicht mehr mitspielen will

Drohender Wohnungsverlust kann zu Angststörungen und anderen schweren Erkrankungen führen

Von Andrea Wiedemann   

Anja, 29 Jahre alt, berichtet, dass sie in den letzten Monaten zunehmend unter Angst- und Panikattacken leidet. Dabei bekommt sie ein starkes Gefühl von Angst, verbunden mit Atemnot, Herzrasen, Schwindel und Übelkeit. Sie befürchtet, ohnmächtig zu werden oder zu ersticken. Sie hat mittlerweile Angst vor der Angst entwickelt, geht kaum noch nach draußen und ist die meiste Zeit zu Hause. Menschenmengen meidet sie, besonders das Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Sie arbeitet daher nur noch im Home office. Dennoch fällt ihr das Arbeiten zunehmend schwerer, da sie sich kaum noch konzentrieren kann. Seit einiger Zeit muss sie sich auch ständig erbrechen. Ihr Sozialleben leidet mittlerweile sehr unter ihrem zunehmenden Rückzug.    


Das fing an, nachdem sie das Kündigungsschreiben von ihrem Vermieter erhalten hatte. Das hat ihr quasi den Boden unter den Füßen weggezogen. Gerade jetzt, wo sie endlich das Gefühl hatte, in Berlin richtig angekommen zu sein und einen Platz gefunden hatte, an dem sie sich wohlfühlte. Vorher ist sie von WG zu WG gezogen, zuletzt musste sie sich ein Zimmer mit einer Freundin teilen. Dennoch hat sie ihr Studium geschafft. Vor zwei Jahren, während der Corona-Pandemie, hat sie ihr Studium beendet und einen Job gefunden. Die Hälfte ihres Gehalts gibt sie für ihre jetzige Miete aus. Dennoch hatte sie Glück gehabt, die Miete ist nicht so hoch, wie bei vielen vergleichbaren Wohnungen. Die Nachbarn sind auch nett und ihre Freund/innen wohnen in der Umgebung. Sie hat sich eingerichtet und ist zur Ruhe gekommen. Endlich. 

Doch dann war dieser Brief im Briefkasten und seither steht ihr Leben kopf. Der Körper macht was er will. Sie hat keine Kontrolle mehr über ihn. Die Hausärztin hat zudem Bluthochdruck festgestellt. Das sei für eine junge Frau sehr ungewöhnlich, und sie fragte, ob es eine familiäre Häufung dieser Krankheit gebe. Gibt es nicht. Zweimal musste Anja in die Notaufnahme eines Krankenhauses, da sich die Symptome derart zugespitzt hatten, dass sie Todesangst verspürte. Im Krankenhaus sei aber  nichts festgestellt worden, außer einem erhöhten Herzschlag und einem erhöhten Blutdruck. Es wurde ihr erklärt, dass die Symptome stressbedingt seien und ihr eine Psychotherapie empfohlen. 

Anja hat dann vier Monate intensiv nach einem Therapieplatz gesucht, leider ohne Erfolg. Völlig verzweifelt bemühte sie sich um einen Platz in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses, aber auch dort besteht eine mehrmonatige Wartezeit. Sie wusste nicht mehr, um was sie sich zuerst kümmern sollte: ihre Gesundheit oder eine neue Wohnung. Sie hat sich deshalb dazu entschlossen, wieder bei ihrer Mutter zu wohnen und Berlin zu verlassen. Allein kommt sie ohnehin nicht mehr zurecht. 

Vielfältige gesundheitliche Schäden

Der oben beschriebene Fall ist fiktiv – und er ist es doch nicht. Derartige Berichte sind in einer psychotherapeutischen Praxis nicht ungewöhnlich. Immer häufiger entwickeln Menschen aufgrund sozialer Nöte Angst- bzw. Stresssymptome. Angst ist eine normale Reaktion auf eine Bedrohung. Angstgefühle sind eine wichtige Überlebensfunktion in realen Bedrohungssituationen. Der Körper wird durch ein genetisches Programm in Alarmbereitschaft gesetzt, um entweder zu fliehen, zu kämpfen oder zu erstarren. 

Der Körper verändert sich in dieser Situation, um optimal auf die Bedrohungssituation reagieren zu können. Gefäße erweitern sich, rote Blutkörperchen werden aus der Milz ausgeschüttet und in die Blutgefäße geschleust. Dort werden sie mit Sauerstoff und Glucose angereichert. Das brauchen die Muskeln, um schnell vor der Bedrohung zu fliehen oder um den Angreifer unschädlich machen zu können. Die größere Menge an Blut muss dann durch den Organismus gepumpt werden, deshalb schlägt das Herz schneller bzw. kräftiger, was auch zum Anstieg des Blutdrucks führt. Die Anreicherung mit Sauerstoff erfolgt durch schnelleres Atmen, was wiederum das Gefühl von Atemnot auslöst. 

Einige Menschen, die sich in den Kampf (ein oft jahrelanger Prozess mit ungewissem Ausgang) um ihre Wohnung begeben, merken erst viele Monate später, wie sehr der ganze Prozess an ihren Kräften zehrte. Sie bringen die gesundheitlichen Folgen dann oft nicht mehr damit in Zusammenhang, sondern empfinden sie als weiteren Schicksalsschlag. Der Körper läuft sozusagen dauernd auf Hochtouren. Es besteht höheres Herzinfarktrisiko (aufgrund des dauerhaft erhöhten Blutdrucks und erhöhter Blutfettwerte, die zu verstärkten Ablagerungen in den Gefäßen führen. Damit erhöht sich auch das Schlaganfallrisiko.

Es entstehen Konzentrationsschwierigkeiten, die Schmerzempfindlichkeit nimmt ab. Dazu kommen mitunter auch ein Tinnitus (Hörsturz) aufgrund einer stressbedingten Durchblutungsstörung, Magengeschwüre, Verstopfung oder Durchfall. Die Liste der gesundheitlichen Folgen könnte noch lange fortgeführt werden.

Ein drohender Wohnungsverlust stellt eine existentielle Bedrohung dar, besonders dann, wenn die Ressourcen für einen adäquaten Ersatz fehlen. Es herrschen Wohnungsknappheit und zu hohe Mieten für oftmals zu geringes Einkommen. Dazu kommen gesundheitliche Einschränkungen und die Angst vor dem Verlust der wichtigen Bezugspersonen im Wohnumfeld. 

Eine Angst- bzw. Stressreaktion ist in diesem Zusammenhang ein normaler Vorgang. Doch gegen was soll der Körper kämpfen oder vor was soll er fliehen? Diese Art Bedrohung kann mit den Mitteln unseres Körpers nicht beseitigt werden. Als der menschliche Körper samt Gehirn entstanden ist, mussten wir in der Regel physisch auf Bedrohungen reagieren und nicht monetär. 

In Situationen, in denen wir zudem kognitiv und besonnen auf eine Bedrohung reagieren müssen, kommt uns die Stressreaktion äußerst ungelegen. Wir können uns in einer Bedrohungslage nur schwer konzentrieren und darüber nachdenken, was wir als Nächstes machen sollen, wir handeln instinktiv. Unser Gehirn ist auf Fliehen oder Kämpfen eingestellt und nicht auf Gesetzestexte lesen oder Briefe schreiben. Das organisierte, planvolle Denken wird blockiert. Die meisten beschreiben es als Watte im Kopf. Permanenter Ausnahmezustand

Da die Bedrohung im Falle eines Kündigungsschreibens weiterhin besteht, wird der Körper auch immer wieder in Alarmbereitschaft versetzt, er kommt quasi nicht mehr zur Ruhe. Jeder Brief, jeder Gang zum Briefkasten kann somit wieder eine Stressreaktion auslösen. Ein Teufelskreis mit erheblichen Gesundheitsfolgen. Diese Stressreaktion auf beispielsweise ein Kündigungsschreiben ist normal, da sie aber auch in anderen Momenten auftritt, wird sie absurderweise als Störung bezeichnet und entsprechend diagnostiziert. Wir könnten aber auch sagen, dass das System krank machend ist, mit erheblichen Folgen für unsere Gesundheit und unsere Gesellschaft. 

Deutsche Studien untersuchten den Zusammenhang zwischen prekären Wohnverhältnissen, drohendem Wohnungsverlust oder Zwangsräumung und psychiatrischen Erkrankungen bislang nur eindimensional. Das heißt, wer psychisch krank ist, wird eher wohnungslos. Das entspricht in vielen Fällen einer Ursachen-Wirkung-Umkehr. Denn wer psychisch gesund ist und seine Wohnung verliert, wird eher psychisch und physisch krank. 

Studien zu dieser Ursachen-Wirkung-Umkehr gibt es in Deutschland kaum oder gar nicht. Eine US-amerikanische Studie zeigt indes eindeutige Zusammenhänge zwischen Depressionen, Angstsymptomen, der Verwendung rezeptpflichtiger Medikamente und drohender Wohnungslosigkeit (vgl. Acharya B. et al (2022) The risk of eviction and the mental health outcomes among US adults. Preventive Medicine Reports 29). Collinson R. und Reed D. untersuchten 2018 die Auswirkungen einer Wohnungskündigung bei Menschen, die ein geringes Einkommen haben. Sie konnten zeigen, dass Menschen, deren Wohnung gekündigt wurde, häufiger in Obdachlosigkeit geraten, Gesundheitsschädigungen aufweisen und häufiger Probleme mit ihrem Einkommen und ihrem Beschäftigungsverhältnis haben. Außerdem müssen sie häufiger Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen. 

Zurück zu Anja, die im Briefkasten das Kündigungsschreiben vorfand. Sie hatte bereits viele Schwierigkeiten im Leben meistern müssen. Die drohende Wohnungslosigkeit konnte nicht mehr bewältigt werden. Anja hatte keine Kraft und keine Energie mehr. Sie erstarrte sozusagen. Sie braucht Hilfe, nicht nur professionelle. Wichtig ist, dass wir diesbezüglich wachsam sind, uns Hilfe suchen, Freunde, Bekannte, Nachbarn, Initiativen ansprechen, um in dieser Situation nicht allein zu sein. Menschen finden, die uns unterstützen und Mut zusprechen, uns ablenken und mit uns kämpfen.              

 

Andrea Wiedemann ist in Berlin approbierte und niedergelassene Psychotherapeutin.


MieterEcho 436 / Oktober 2023

Teaserspalte

Berliner MieterGemeinschaft e.V.
Möckernstraße 92
10963 Berlin

Tel.: 030 - 21 00 25 84
Fax: 030 - 216 85 15

Email: me(at)bmgev.de

Ferienwohnungen

Unsere Umfrage

Falls sich eine oder mehrere Ferienwohnung(en) in Ihrem Haus befinden, berichten Sie uns davon und schildern Sie Ihre Erfahrungen in unserer Online-Umfrage.