Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 437 / Dezember 2023

Sehnsucht nach aristokratischer Baukultur

Marie-Luise Schwarz-Schilling treibt die Refeudalisierung von Mitte voran

Von Nicolas Šustr

„Ich will den großen Jüdenhof wiederhaben, den finde ich so niedlich. “ Marie-Luise Schwarz-Schilling spricht über die Gegend am Berliner Molkenmarkt wie über eine Modelleisenbahn – ihre Modelleisenbahn. Sie sagt das beim „Mitte-Festival“ im Oktober 2022, das erstmals von der damals frisch von ihr mitbegründeten „Stiftung Mitte Berlin“ ausgerichtet und vom Landesdenkmalamt mitfinanziert wird.

Die Stiftung ist die neue Speerspitze der Berliner Altstadtaktivisten, die statt eines zeitgemäßen, an Ökologie, sozialen Fragen und Klimaschutz orientierten Teil-Wiederaufbaus des Molkenmarkts lieber Altstadtattrappen nach dem Vorbild von Potsdam oder Frankfurt am Main wünschen.

Der fachliche Vordenker in der Stiftung ist Benedikt Goebel. Der promovierte Historiker und Philosoph, der seit 2014 SPD-Mitglied ist, treibt seit über einem Jahrzehnt die Altstadt-Agenda in verschiedenen Konstellationen voran. Beispielsweise in der 2011 gegründeten „Planungsgruppe Stadtkern“ mit einflussreichen Mitstreiter/innen, darunter die heutige Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt (parteilos, für SPD). Es geht nicht nur um Architektur, sondern auch um Soziales. „Es ist unnatürlich und kontraproduktiv, dass in der historischen Mitte der Metropole nur Sozialmieter wohnen – erst der Zuzug von Wohlhabenden wird ein lebendiges und nachhaltiges Zentrum ermöglichen.“ Mit diesem Satz ließ sich Goebel in einer Einladung zitieren. 

„Wir zehren immer noch davon, was die Könige, die wir mitunter verachten, gebaut haben. Aber heute haben wir keine Adligen mehr und müssen es selbst schön machen“, formuliert es Marie-Luise Schwarz-Schilling beim Mitte-Festival etwas weniger offenkundig. Heute 91-jährig, ist sie eine spät berufene Altstadt-Aktivistin. Zur Veranstaltung in der Parochialkirche begleitet sie ihr wesentlich prominenterer Ehemann, der ehemalige Bundespostminister Christian Schwarz-Schilling. Seit 1992 haben die beiden neben einem Wohnsitz im hessischen Büdingen auch einen in Berlin. Sie wohnen in Friedenau, eine Etage unter Senatsbaudirektorin Kahlfeldt.

Marie-Luise Schwarz-Schillings Auftreten erinnert an die Zeit, in die sie baulich nicht nur den Molkenmarkt zurückkatapultieren möchte: die 1920er Jahre. Zigaretten raucht sie mit Spitze, von den Haaren über die kniehohen Stiefel bis zum Daunenmantel ist fast alles schwarz, was sie trägt. Schwarz ist auch der Gehstock, auf den sie angewiesen ist.

Die Frau des „Bundesbleiministers“

Die 1932 in Berlin-Wilmersdorf geborene Frau erklärt, seit einem Schulausflug zum Molkenmarkt immer eine Eins in Heimatkunde gehabt zu haben. 1943 wurde sie aus Berlin evakuiert. 1946 wurde das hessische Büdingen der neue Stammsitz des familieneigenen Betriebs, die „Accumulatorenfabrik Sonnenschein“. 1957 übernahm sie mit ihrem Mann Christian die Geschäftsführung. Christian Schwarz-Schilling schied 1982, nach seiner Ernennung zum Bundespostminister unter dem frisch gewählten Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), aus. Die Affären seiner Amtszeit sind kaum zu zählen, der Umgang mit öffentlichem Geld war mehr als locker, die Trennung von privaten Geschäften und öffentlichem Amt nicht immer klar. Und dann bekam er noch den Beinamen „Bundesbleiminister“.

Das lag am Sonnenschein-Werk in Berlin-Mariendorf. Anfang 1985 kam ein Umweltskandal ans Licht der breiten Öffentlichkeit: Das Werk verseuchte die Umgebung mit riesigen Mengen Blei. Das ARD-Magazin „Panorama“ berichtete, dass der Bleigehalt in Schneeproben von einem öffentlichen Spielplatz direkt am Werkszaun die Grenzwerte für Trinkwasser um das Tausendfache überstiegen.

„Wenn man zehn Gramm von diesem Schnee zu sich nimmt, dann hat man schon die Menge, die ein Kind stark gefährden kann. Mit einem Liter wäre das Kind tot“, verdeutlichte Günter Axt, Professor an der Technischen Universität Berlin, die Gefahr.

Seit 1974 sind in dem Werk Bleischmelzöfen ohne die erforderlichen Genehmigungen betrieben worden. Öffentliches Aufsehen in Sachen „Sonnenschein“ gab es bereits seit Ende der siebziger Jahre. Anfang 1979 alarmierte der Präsident des Bundesgesundheitsamtes den Berliner Senat mit Messergebnissen aus der Firmenumgebung, wo Bodenproben „zum Teil beachtlich hohe Bleigehalte“ zeigten, berichtete der „Spiegel“ 1985. Ein juristisches Ende fand die Causa, die fast zur Betriebsstilllegung führte, 1991 mit Geldstrafen gegen zwei direkt Verantwortliche im Berliner Werk.

Auch in Büdingen machte „Sonnenschein“ mit überhöhten Bleikonzentrationen von sich reden, doch der öffentliche Aufschrei blieb dort aus. Mit fast 1.000 Beschäftigten war das Werk der mit Abstand größte Arbeitgeber und Gewerbesteuerzahler im 18.000-Einwohner-Ort. Und als eine Art graue Eminenz saß Marie-Luise Schwarz-Schilling für die CDU im Stadtparlament.

Von dem 1985 hochkochenden Skandal wollten die Schwarz-Schillings sich die Feierlichkeiten zum 75. Betriebsjubiläum der Batteriefabrik im selben Jahr nicht vermiesen lassen, die man sich eine halbe Million Mark kosten ließ. „Alles ein Medienskandal“, zitierte der „Spiegel“ ihre Sicht. Die ganzen Bleiverschmutzungen hätten „doch bloß Journalisten aufgebracht“, die „dem Unternehmen Schaden zufügen wollen“.

Zwei Jahre zuvor hatte sich die Patriarchin erstmals literarisch versucht, mit dem Werk „Kaufmann und Schamane – Ermutigung zur Freiheit und ihrer Last“, laut „Spiegel“ ein Hochruf auf den Kapitalismus. Der Wälzer, mühsam zu lesen und schwer verständlich, gebe Antwort auf „bange Fragen“ wie diese: „Wie sollen wir mit den Nachbarn umgehen, wenn das Schwert zu zücken verboten ist?“ Eine weitere, kaum nachvollziehbare Erkenntnis Schwarz-Schillings aus jener Zeit war, dass in diesem Wirtschaftssystem die Armen immer reicher und die Reichen immer ärmer würden.

In späteren Jahren verlegte sich die Firmen-Inhaberin, die 1992 das heruntergewirtschaftete Unternehmen verkaufte, mit mehreren Werken zu den Themen Emanzipation und Beziehungen. Bücher zu schreiben gehörte neben dem Ballett-Tanz zu ihren Hobbys. Die Beurteilungen der Beziehungs-Prosa fallen nicht durchgängig gnädig aus. „Obwohl das Buch als Sachbuch deklariert ist, kommt dem Leser die Einführungsszene wie in einem Frauenroman vor“, heißt es beispielsweise 2015 in einer Rezension.

Großbürgerliche Träume für Berlins Mitte

Nach dem Unternehmensverkauf wollte sich Marie-Luise Schwarz-Schilling offenbar den ganz großen Fragen widmen. In den 1990er Jahren war sie Vorstandsmitglied in einem obskuren „Förderverein zur Gründung einer Friedensuniversität“ in Potsdam, einem kommerziell-esoterischen Projekt, das maßgeblich von einem Astrologie-Unternehmer vorangetrieben wurde. Nun soll es also mit der Berliner Mitte eine Nummer kleiner sein. Doch ausdrücklich geht es ihr nicht nur um den Molkenmarkt, sondern auch um den Bereich rund um den Fernsehturm. 

Die geplante Begrünung großer Teile des sogenannten Rathausforums, die das Ergebnis eines umfangreichen Bürgerbeteiligungsverfahrens und anschließenden Wettbewerbsverfahrens sind, hält sie für „vollkommen unsinnig“. Das erklärte sie in einem kürzlich von der „Stiftung Berlin Mitte“ veröffentlichten Podcast. Wenn man ihren Ausführungen Glauben schenken würde, müsste die Gegend zu beiden Seiten des Roten Rathauses Endzeitatmosphäre versprühen: „Du kannst keinen Kaffee trinken. Du kriegst auch nichts zu essen. Die ganze Mitte ist ein relativ wüstes Gebilde. Es gibt nichts Gemütliches oder Vergnügtes oder Interessantes.“

„Mensch, man muss ja für Berlin etwas tun. Die Mitte ist ja in den letzten 20 Jahren misshandelt worden“, das sei ihre Motivation für die Stiftungsgründung gewesen. Zuversicht habe ihr die Begegnung mit Benedikt Goebel gegeben, „Denn ich kann ja als über 90-Jährige nicht mehr so viel in die Tat umsetzen.“ Dass ihre Nachbarin Petra Kahlfeldt seit ihrem Amtsantritt alle Hebel in Bewegung setzt, um die Planungen am Molkenmarkt in Richtung der großbürgerlichen Träume zu lenken, erwähnt sie nicht. 

Mit den Ostdeutschen ist Schwarz-Schilling in der Sache nicht sonderlich zufrieden. „Was machen denn die Ossis zum Donnerwetter? Es ist ja ihr Gebiet. Die müssen sich dafür einsetzen“, fordert sie im Podcast. „Wir kommen jetzt aus unseren Löchern hervor“, so lautete ihr heiter gemeintes Fazit beim Mitte-Festival 2022. Und mit der aktuellen schwarz-roten Koalition könnten jetzt Pflöcke für die Refeudalisierung der Mitte eingeschlagen werden.     

 

Nicolas Šustr arbeitet in der Presseabteilung des Umweltverbandes BUND Berlin und als freier Journalist. Zuvor war er Redakteur im Berliner Lokalressort der Tageszeitung Neues Deutschland. Der Tag.


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