MieterEcho 327/April 2008: "Rezoning" Harlem

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MieterEcho 327/April 2008

Quadrat WOHNEN INTERNATIONAL

"Rezoning" Harlem

Durch einen neuen Bebauungsplan soll die Hauptstraße Harlems verändert werden - die Bevölkerung befürchtet Verdrängung

Matthias Bernt

Auf der 125. Straße werden Flugblätter verteilt: "Stoppt die Gentrifizierung von Harlem! Sagt nein zum Rezoning!" Angesprochen auf den Hintergrund, erklärt einer der Flugblattverteiler, ein älterer afroamerikanischer Herr, sehr deutlich: "Es geht darum, dass die Stadt die Schwarzen und die Latinos aus Harlem rauswerfen will. Das muss verhindert werden." Wie ist das zu verstehen? Worum geht es beim "Rezoning" der 125. Straße und warum stößt das bei vielen Bewohnern auf Protest?

Die 125. Straße ist die Hauptstraße von Harlem und Harlem ist ein Stadtteil im Norden Manhattans, der seit fast 100 Jahren wie kaum ein anderer für die Geschichte des schwarzen Amerikas steht: Hier wurde Jazz populär gemacht, hier hatten Aretha Franklin und Louis Armstrong ihre großen Auftritte, hier agitierte Malcolm X und natürlich hatte auch die Black-Panthers-Partei ihr New Yorker Hauptquartier in Harlem. Seit den 70er Jahren ist Harlem allerdings auch eines der traurigsten Beispiele für die "urbane Krise", den Niedergang innerstädtischer Viertel in den USA. Wie viele andere Gebiete geriet es infolge von Deindustrialisierung, Verarmung und Kriminalität in einen Abwärtsstrudel und verlor bis Ende der 80er Jahre fast ein Drittel seiner Bevölkerung. Ganze Ladenfronten machten dicht, wichtige Institutionen flohen aus dem Stadtteil und die Hausbesitzer unterließen Instandhaltung in einem solchen Ausmaß, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt 40% aller Gebäude leer standen und als vernagelte Ruinen das Stadtbild prägten.

Von Verfall zu Chic

Seit Mitte der 90er Jahre hat Harlem eine erstaunliche Aufwertung erfahren. Gefördert durch Steuererleichterungen und unterstützt durch massive städtische Programme setzte eine enorme Sanierungstätigkeit ein, die Harlem sozusagen in den städtischen Immobilienmarkt zurückintegrierte. Zunehmend führt das allerdings auch zu den typischen Erscheinungen der Gentrifizierung. Von einer No-Go-Area, zumindest für die weiße Mittelklasse, ist Harlem zu einem Stadtteil geworden, der auch für Yuppies interessant ist. Bedingt durch die günstige Lage, die gute Verkehrsanbindung und den guten Wohnungsbestand einerseits und die Explosion der Immobilienpreise in New York andererseits erlebt Harlem gerade seine zweite "Renaissance": Die Hauspreise haben sich seit 1995 mehr als verdreifacht und in den letzten Jahren sind zahlreiche Eigentumswohnungsprojekte und Luxussanierungen entstanden.

Bislang hat diese Aufwertung Harlem allerdings nur bruchstückhaft erfasst. Harlem ist, auch aufgrund der vielen hier befindlichen Sozialwohnungsblocks, immer noch einer der ärmsten Stadtteile New Yorks, dessen Haushaltseinkommen bei etwa einem Drittel des Durchschnitts von Manhattan liegt. Diese gespaltene Entwicklung spiegelt sich auch im Straßenbild wider. Auf der 125. Straße, der Hauptschlagader des Stadtteils, haben einerseits in den letzten Jahren ein paar viel beachtete Designerläden aufgemacht und mit dem sanierten Apollo-Theater und der im Jugendstil gehaltenen Lennox-Bar lassen sich auch attraktive Kultureinrichtungen finden - mit entsprechenden Preisen. Andererseits ist eine an den Niedrigeinkommen der Bewohnerschaft orientierte Mischung aus Ramschbuden, Tante-Emma-Läden, Großkettenfilialen und Fastfood-Restaurants immer noch prägend.

Entwicklungsdefizit aus Sicht der Stadtverwaltung

Nach Meinung der Stadtverwaltung bleibt die 125. Straße damit - angesichts ihrer guten Verkehrsanbindung, der immer noch zu findenden Baudenkmäler und des reichen historischen und kulturellen Erbes - weit unterhalb ihrer Potenziale. Die Billigausstattung vieler Geschäfte, nur eingeschossig bebaute Grundstücke, das Fehlen von Nachtaktivität und die vielen leer stehenden Obergeschosse sind ihrer Meinung nach ein Entwicklungsdefizit, das jetzt behoben werden soll.

Amanda M. Burden, die Planungsamtschefin von New York, soll nach einem Konzertbesuch im Apollo-Theater auf das Thema aufmerksam geworden sein. Nachdem das Konzert zu Ende war, so wird wenigstens in der New York Times kolportiert, fragte sie ihren in Harlem arbeitenden Begleiter, wo sie denn jetzt essen gehen würden. Seine kurze Antwort war: "Downtown" - in Harlem gäbe es keine ansprechenden Möglichkeiten. Diese kurze Episode machte Frau Burden schlagartig klar, dass mit der 125. Straße etwas nicht in Ordnung sei und etwas getan werden müsse.

Planung mit drei Kernpunkten: Dichte, Kultur und Wohnen

In den letzten vier Jahren hat das Amt deshalb einen Planungsvorschlag, "Zoning Proposal", entwickelt und am 10. März 2008 zur Beschlussfassung beim Stadtparlament eingereicht. Im Kern besteht der Vorschlag aus drei Grundelementen: Erstens wird in den zentralen Bereichen der 125. Straße die erlaubte Bebauungsdichte deutlich erhöht, z. T. sollen bis zu 29 Stockwerke hohe Gebäude möglich werden. Das wird vor allem als Anreiz für Investoren verstanden, deren Immobilienprojekte dadurch profitabler würden. Die erhöhte Dichte soll zudem die Ansiedlung von Vergnügungs-, Kultur- und Einkaufseinrichtungen fördern, mit dem Ziel, auch höherwertige Ladennutzungen möglich zu machen. Dies soll wiederum Harlem auch für Besucher anziehender machen, sodass sich in der Summe ein selbsttragender Aufwertungsprozess ergibt. Gedacht ist dabei vor allem an Mischprojekte, in etwa Hochhäuser mit Eigentumswohnungen, die über Lofts in den oberen und Supermarkt, Delikatessengeschäft, Restaurant und Theater in den tiefer liegenden Etagen verfügen. Damit am Ende nicht doch nur Bürotürme entstehen und die Gegend auch atmosphärisch interessant bleibt, enthält der Plan eine Reihe von weiteren Instrumenten, mit denen die Ansiedlung von Kulturinstitutionen gefördert werden soll. Zentral ist dabei das zweite Grundelement: ein "Kulturbonus". Für jeden Quadratmeter, den Investoren für Galerien, historische Ausstellungen, Museen, Theater und andere nichtkommerzielle Kultur-Einrichtungen anbieten, dürfen sie ihre zulässige Bebauungsfläche um vier Quadratmeter erhöhen. Die Kunststätten müssen dabei öffentlich zugänglich sein und sich im Erdgeschoss befinden. Zusätzlich gelten Nutzungsbeschränkungen: Auf der Straßenseite dürfen Banken nur einen Bruchteil der Fassadenfläche einnehmen, auf "einzigartige" und dem Umfeld angepasste Beleuchtung und Beschilderung ist zu achten und es gibt die Auflage, bei allen Projekten im Erdgeschoss Unterhaltungseinrichtungen, dazu zählen auch Restaurants oder Bars, unterzubringen. Zu diesen kulturfördernden Auflagen kommt zum Dritten ein Bonus für Wohnungsbau. Auch hier dürfen Investoren die zulässige Geschossflächenzahl überschreiten, wenn sie dafür Sozialwohnungen errichten. Die Mieten zielen dabei allerdings auf ein Einkommensniveau, das ungefähr doppelt so hoch wie der Harlemer Durchschnitt ist und die Wohnungen müssen zudem nicht unbedingt im gleichen Gebäude angeboten werden, sondern dürfen innerhalb des Planungsgebiets auch ruhig abseits liegen.

Durch die Kombination dieser drei Elemente erhofft sich die Planungsabteilung einen deutlichen Entwicklungsschub für die 125. Straße, die "zu einem bedeutenden regionalen Geschäftszentrum wird, das seiner historischen Rolle als Kunst-, Unterhaltungs- und Einkaufskorridor gerecht werden kann", wie es in einer Pressemitteilung heißt.

"Die wollen uns hier loswerden"

Diese Aussichten stoßen allerdings nicht bei jedem auf Gegenliebe. In den letzten Monaten haben sich Gewerbetreibende, Mietervereinigungen, Nachbarschaftsgruppen und auch lokale Politiker und Kirchen verstärkt gegen die Pläne ausgesprochen. Sie befürchten, dass Harlem durch den Plan weitgehend umgekrempelt wird. Stichwortartig zusammengefasst lautet die Kritik wie folgt: 2000 neue Luxuswohnungen würden die Zusammensetzung der Bevölkerung so stark verändern, dass arme Bewohner, und das heißt vor allem Afroamerikaner und Latinos, an den Rand gedrängt werden; die zu erwartenden hohen Gewerbemieten bedeuteten das "Aus" gerade für diejenigen Kleingewerbetreibenden, die auch in Zeiten des Niedergangs den Stadtteil nicht im Stich gelassen hatten; die zu erwartenden Kulturangebote hätten nichts mit der gewachsenen Alltagskultur Harlems zu tun; durch den Bauboom würde eine weitere Hochhausschlucht entstehen, in welcher die noch vorhandenen Baudenkmäler visuell degradiert würden.

Zu den schärfsten Kritikern gehört dabei die in Harlem beheimatete Bürgerrechtsgruppe VOTE (Voices of the everyday people): Sie bezeichnet den Plan als "Todesurteil" für Harlem. Craig Schley, Geschäftsführer der Gruppe, vergleicht das Vorhaben der Stadt im Interview sogar mit dem Sturm Katrina, der vor wenigen Jahren New Orleans verwüstet hat: "Der Plan ist Teil einer ‚Katrinafizierung' Harlems, ausgeführt mit dem Bleistift anstelle des Hurrikans. Man will einfach die Bewohner des Viertels austauschen. Es geht darum, die vorhandene afroamerikanische und Latino-Bevölkerung und ihre Kultur wegzukriegen und Platz zu machen für eine wohlhabendere Bevölkerung." Ähnlich scharfe Kritik kommt auch von Bill Perkins, einem lokalen Senator, der das Vorhaben der Stadt mit einem Tsunami vergleicht.

Trotz der nahezu 200 Treffen und Versammlungen, die in den letzten Jahren zum Thema abgehalten wurden, haben diese Kritiken bislang kaum zur Veränderung der Pläne der Stadtverwaltung geführt. Mit der am 10. März erfolgten Entwurfsabgabe ist jetzt allerdings eine neue Stufe der politischen Auseinandersetzung angesagt. Denn jetzt muss das New Yorker Stadtparlament entscheiden. Viele Gegner des Plans hoffen, auf dieser Ebene noch wesentliche Änderungen durchsetzen - oder die Umsetzung des Plans wenigstens blockieren zu können. Andere vertrauen eher auf die einsetzende wirtschaftliche Rezession. Wie auch immer der Kampf um Harlem ausgeht - dass der Stadtteil sein Gesicht deutlich ändern wird, ist so gut wie sicher.

Gentrifizierung

Der Begriff Gentrifizierung bzw. "Gentrification" - von engl. gentry = Oberschicht - beschreibt die ökonomische und soziale Aufwertung von städtischen, armen und häufig zuvor dem Verfall preisgegebenen Wohnquartieren. Die Aufwertung erfolgt durch Modernisierungen, Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen und dem damit verbundenen Zuzug Besserverdienender. Es werden so veränderte ökonomische und sozio-kulturelle Bedingungen geschaffen, die zur Abwanderung der alteingesessenen, niedrigverdienenden Bewohnerschaft führen. Verschiedene Beiträge zur Gentrifizierung bildeten das Schwerpunktthema von MieterEcho Nr. 324.

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