MieterEcho
Nr. 282 - November/Dezember 2000

Vom Wüten der Mythen...

 

Ein Beitrag zur Geschichte kommunaler Sozialverwaltungen

Volker Eick

In seiner 1996 an der Universität Konstanz eingereichten Dissertation, 1999 für diesen Band aktualisiert, schlägt Günter Roth einen weiten Bogen von der vorwiegend ehrenamtlich organisierten sog. Armenpflege (Elberfelder System) bis hin zur Debatte um das betriebswirtschaftlich orientierte Neue Steuerungsmodell, das die Stadt wie einen Konzern organisieren möchte (Tilburger Modell). Zentral geht es Roth um die Frage, wie eine Organisation soziale Probleme (wie Armut, Obdachlosigkeit, Alter, Krankheit, Devianz, Delinquenz) antizipiert und nach von ihr entwickelten Regeln bearbeitet. Und weiter, wie sie aus so formell und informell definierten Regeln im Wechselspiel mit ihrer institutionellen, sozialen, politischen und ökonomischen Umwelt zur Institution gerinnt, die gleichwohl in den vergangenen 150 Jahren einen pfadabhängigen exorbitanten Wachstums- und Differenzierungsprozess hinter (und ggf. auch vor) sich hat.
Roth kann dabei einerseits - jeweils unter besonderer Berücksichtigung der Stadt Nürnberg, die er als Fallbeispiel heranzieht - nachweisen, dass über die verschiedenen Phasen der deutschen Geschichte hinweg, kommunale Verwaltungen ein großes Beharrungsvermögen haben, dass also Verwaltungsumwelt und veränderte Aufgaben nur mittelbar den Wachstumsprozess und Wandel der Institution beeinflussen. Zum anderen aber auch, dass die nur lose an Vorgaben des Nationalstaats gekoppelte Organisation der kommunalen Sozialverwaltung sich dennoch erstaunlich ähnlich entwickelt hat, was Roth als "Isomorphie der Organisation" bezeichnet.
"Wir geben dem Armen, dass er gerade nicht schreit und öffentlich Ärgernis macht, doch geben wir nicht so viel, dass wir hoffen können, außer diesem negativen auch ein positives Ziel mit unserem Tun zu erreichen" (42). So beschreibt im Jahre 1905 der Begründer des "Straßburger Systems", Schwander, die Notwendigkeit, größere Planmäßigkeit in der Armenfürsorge und den Einsatz von Berufskräften durchzusetzen. "Weil", so der Ende des 19. Jahrhunderts gegründete und noch heute einflussreiche Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge, "ein guter Wille und ein gutes Herz zwar zur fürsorgerischen Tätigkeit notwendig sind, aber eine gedeihliche Tätigkeit für sich allein nicht gewährleisten" (ebd.). Bereits um diese Zeit beginnt - so Roth - sich eine Fachwelt zu etablieren, die fürderhin einen großen Einfluss auf den Ausbau und die Weiterentwicklung der kommunalen Sozialverwaltungen ausüben wird.
Schon Ende des 19. Jahrhunderts war nicht mehr das individuell zum Lebensunterhalt Notwendige die Richtschnur für die Unterstützungshöhe, sondern sie sollte 14 Prozent unter dem ortsüblichen Tagelohn liegen. War bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Bezug von Armenhilfe mit dem Verlust des Wahlrechts verbunden, weil "Arme überwiegend als Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung betrachtet" werden (43), änderte sich dies im Zuge einer weiteren Ausdifferenzierung und wurde durch eine sozialpädagogisch orientierte Disziplinierungspolitik "z.B. in Form der Aussonderung sogenannter 'Arbeitsscheuer' gestärkt und rechtlich differenziert geregelt" (63).

Bereits in den 20er Jahren (Vorbild ist die Medizin) werden Rationalisierungen der Fürsorge gefordert, die sozialpädagogisches mit sozialhygienischem und diskriminierendem Gedankengut mischen. Beispielhaft zitiert Roth die sozialdemokratische Vordenkerin der Fürsorge, Helene Simon, die, auf einheitliche Regelungen in einem Reichswohlfahrtsgesetz rekurrierend, den Ausbau der Wohlfahrtspflege unter "den immer gleichen Leitmotiven: Vorbeugung oder Verhütung, Heilung, Versorgung, Unschädlichmachung" (75) fordert; es sei "eine kaum noch angeschnittene Aufgabe des Gesundheitswesens (...) die Unschädlichmachung unheilbar Kranker und sittlich minderwertiger und schwachsinniger Personen", des, so Simon, "verderblichen Volkszuwachs" (74). Eine Logik, die wenige Jahre später durch die Nationalsozialisten im Verbund mit den kommunalen Sozialverwaltungen dann auch exekutiert werden wird: Dafür werden nur etwa ein bis zwei Prozent der Beamten in den Verwaltungen nach 1933 bzw. 1945 ausgetauscht, nach Untersuchungen zur Berliner Wohlfahrtsverwaltung durch Kramer (1983) "scheint es auch keine Seltenheit gewesen zu sein, dass Fürsorgekräfte, die 1933-34 aus politischen Gründen entlassen wurden, gegen Ende der dreißiger Jahre wieder eingestellt wurden" (zit.n. Roth: 134).

Kontinuität nach 1945

Nach dem Zweiten Weltkrieg "nimmt der Deutsche Verein die Arbeit im Sinne seiner guten alten Tradition wieder auf", heißt es in einer Schrift von 1955. Roth mutmaßt wohl sehr zu Recht, es sei eine "verbreitete Ansicht gewesen", dass "im Nationalsozialismus 'immerhin Ordnung geherrscht habe'" (181) und zitiert vom deutschen Fürsorgetag 1946 den Vorsitzenden Polligkeit, der "für einen Aufbau des geschädigten Volkskörpers (...) geordnete und gesunde Verhältnisse in Familie und Arbeitsstätte" als Aufgabe der Fürsorge sieht. Dies, so seine Kollegin Baum, sei um so dringlicher, als "'in unserer zerstörerischen Zeit' die 'Auflösung' der Familie durch den 'Bolschewismus'" für 'Verwahrlosung' des 'gesunden Volkskörpers' gesorgt habe.
Die 50er und 60er Jahre markieren das Ende des Ehrenamtes in der kommunalen Sozialfürsorge und den Aufstieg der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung beim Deutschen Städtetag (KGSt) als entscheidender Institution bei der Professionalisierung der Verwaltungen auch im Hinblick auf die "Isomorphie" der Sozialverwaltungen - hier deuten sich bereits die heute aktuellen Anglizismen des bench marking und der best practice an. Nimmt der Niedergang der heutzutage wieder en vogue erscheinenden Ehrenamtlichkeit breiten Raum ein, bleiben die Ausführungen zur Selbsthilfebewegung, den Neuen Sozialen Bewegungen und deren Institutionalisierungsprozesse, zunächst in Konkurrenz zur kommunalen Sozialverwaltung, bedauerlicherweise blass. Roth gelingt es an dieser Stelle nicht, die Auseinandersetzungen hinreichend nachzuzeichnen, die weitere Entwicklung der Konfliktlinien - etwa im Hinblick auf die Auseinandersetzung eines zwischen Staat (Verwaltung) und Markt angesiedelten Dritten Sektors - fehlt.

Das Bundessozialhilfegesetz von 1961, die Etablierung von Berufsverbänden in der sozialen Arbeit und die 1971 etablierten Fachhochschulen für soziale Arbeit waren Ausdruck der Stärkung einer ohnehin selbstbewussten Sozialverwaltung, der es im weiteren Verlauf - trotz steigender Arbeitslosigkeit, höherer Sozialhilfezahlen, aber auch bei entgegengesetzten Trends - ohne Schwierigkeiten gelingt, ihre Mythen zu pflegen und ihr Mütchen entlang sog. sozialer Problemlagen zu kühlen. Im einzelnen kann dieser Prozess hier nicht nachgezeichnet werden; allemal aber bietet die Arbeit reichhaltiges Material, auch heute geführte Debatten aus ihrem historischen Kontext (besser) zu verstehen.

Beeindruckend sind etwa die Wachstumszahlen des Personals: So gab es allein zwischen 1925 und 1931 fast eine Verdopplung des Personals; von den 50er bis in die 90er eine weitere Verdopplung, "allein zwischen 1980 bis 1990" wuchs die Sozialverwaltung erneut "um durchschnittlich etwa 45%" (358).

Abschließend seien lediglich einige der von Roth überzeugend herausgearbeiteten und mit Zahlenmaterial reichlich belegten Mythen der kommunalen Sozialverwaltungen nachgezeichnet, die von der zunehmenden Auseinandersetzung zwischen Verwaltungsbeamten einerseits und Sozialarbeitern andererseits überlagert wurden: Eine Verbesserung der Arbeitssituation und Organisation zöge, so ein alter Mythos, quasi automatisch eine bessere Aufgabenbewältigung und Situation der Klientel nach sich. Ein Zusammenhang, den Roth in seinen Analysen nicht finden kann - immerhin sei es so, "dass in der Regel keine enge Kopplung von organisatorischem Wachstum (und Differenzierung) und zunehmendem Aufgabendruck bestand" (358); richtig weist er für die 70er Jahren darauf hin, dass gerade die schärfsten Angriffe auf das staatliche Hilfesystem "indes meist von Forderungen begleitet [waren], dieses weiter auszubauen" (225). Ebenso griffen Überzeugungen Raum, es sei die frühzeitige präventive und methodische Sozialarbeit zwar personalintensiv, aber insgesamt sparsam - ein schon in den 20er Jahren kolportierter Mythos -, obwohl auch gesehen wurde "dass der Nachweis darüber noch nicht erbracht wurde" (231). Im Hinblick auf das Beharrungsvermögen der kommunalen Sozialverwaltung angesichts des Neuen Steuerungsmodells und der Bemühungen um Privatisierung sozialer Dienstleistungen scheint, so Roth, in Hinblick auf einen "sinnvollen" Umbau der Verwaltung, "Skepsis geboten" (369f): "Mit der Auslagerung und im Gegenzug vermutlich sogar verstärkten Kontrolle sozialer Dienste wird sich insgesamt die 'Reflexivität' und damit Komplexität sowohl der Aufgabenbewältigung als auch Organisation überwiegend weiter steigern." Offen bleibt freilich, ob dies zum 'Nutzen' der von Sozialverwaltung betroffenen 'Klientel' geschehen wird.

Roth, Günter 1999: Die Institution der kommunalen Sozialverwaltung. Die Entwicklung von Aufgaben, Organisation, Leitgedanken und Mythen von der Weimarer Republik bis Mitte der 90er Jahre (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Band 56), Duncker & Humboldt Verlag, Berlin, 433 S., DM 128,-

 

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